Im Boot mit Byron

„Für mich ist die parasitenpresse einer der interessantesten und innovativsten Verlage in Deutschland und jederzeit für eine überraschende Publikation jenseits des Mainstreams zu haben. Seit 2000 gibt der kleine, unabhängige Kölner Verlag deutschsprachige und internationale Prosa und Lyrik heraus und erhielt für seine literarischen Ambitionen 2021 den Deutschen Verlagspreis. In den letzten Jahren sind, unter mehr als 150 Einzeltiteln, zahlreiche deutschsprachige Debüts erschienen, von denen ihrerseits viele ausgezeichnet wurden. Zu nennen wären hier Werke von Autor:innen wie Kinga Tóth, Matthias Nawrat, Alexander Estis – gerade geehrt mit dem Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik – und nicht zuletzt Adrian Kasnitz, dem engagierten Verleger der parasitenpresse“, schreibt Manfred Luckas auf der Homepage des FDA, des Freien Deutschen Autorenverbandes (NRW).

„Kasnitz, Jahrgang 1974, kann als Grenzgänger zwischen Lyrik und Prosa mittlerweile auf ein respektables literarisches Oeuvre zurückblicken. Der jüngste Gedichtband des polyvalenten Poeten, der seit 2019 im Team auch das Europäische Literaturfestival Köln-Kalk (ELK) kuratiert, trägt den Titel Im Sommer hatte ich eine Umarmung – ‚ich warne dich, es fühlte sich wie Wind an / es schmeckte leicht, was ich in den Mund nahm.‘

Wunderschöne Wendungen wie diese sind es, flüchtig wie eine Meeresbrise und melancholisch wie das Venner Moor, die beim Lesen fesseln, die geprägt sind vom Wissen um den Verlust von Menschen, Heimat, Liebe, den vergangenen Tagen der Kindheit. Früher war nicht alles besser und auch heute ist nicht alles so, wie es sein soll: ‚in kleinen Wellen / kommen die Nachrichten, gute / sind nicht dabei‘ oder wie in CHEFS: ‚Wir gehören nirgendwo hin / und zu niemand. Wir sind einfach nur Leute / einfache Leute, die nicht Chef sein wollen / die keine Chefs dulden können.‘ Der Mensch ist seit Herta Müller ein großer Fasan auf der Welt und oft wird er gerupft, wenn er nichts hat: ‚So war die Welt geworden, immer schön nach unten treten.‘ Die Welt ist ein gewalttätiges Paradies, dem der Autor einfühlsam, seismografisch und mit scharfer Beobachtungsgabe, im Duktus der dichterischen Halbdistanz, nachspürt. Er tut dies in der unverstellten Sprache einer poetischen, sensiblen Sachlichkeit, die lakonisch pointiert: ‚Jahre zuvor war mein Großvater hier. Wen / er erschoss, sagte er nicht. Was er überlebte / davon sprach er oft, auch zu seinen Enkeln.‘ (CHARKIW 42-92-22)

Die Lyrik von Kasnitz weiß um das Wichtige, ist beziehungsreich, witzig, welthaltig und always on the road, ob nun auf den Flügeln des AMAZONAS WÜRGEVOGEL, in Frankfurt, Fulda oder, als leicht dadaistische Intervention, irgendwo im Oxymoron, einem ‚Wort in der Nachbarschaft von Ozelot und Okapi‘. Immer wieder haben die Texte auch die Qualität einer assoziativen Zeitmaschine, so wie in dem Gedicht KRANKENHAUS AM RANDE DER STADT – ‚du kommst stehend und / gehst liegend, sagen die Alten‘ – für mich, durch die tschechoslowakische Serie gleichen Namens, brutalistisch-betongrau eingefärbtes Fernseherlebnis Ende der 1970er-Jahre.

Ganz stark: IM BOOT MIT BYRON – ‚Stolz und missraten, wie nur Dichtung es sein kann […] Stolz und missraten, das Gedicht / in der Tasche, wo die Faust sich ballt‘ – was für eine zutreffende, schön schillernde Hommage an den freiheitskämpfenden Boxer-Poeten und AUF DER MUSEUMSINSEL. In diesen 13 Zeilen zeigen sich, ebenso verdichtet wie erhellend, literarisches Engagement, Mut zur Invektive und die, bei allem Zugeständnis an die existentiellen Grenzgänge des Gegenwärtigen, heilsamen Kräfte der Poesie:

Wir stehen den antiken Steinen gegenüber
die uns mit ihren stumpfen Augen anschauen
verständnislos, warum wir uns vor ihren Göttern
nicht verneigen. Der Sohn erklärt dem Vater
ein paar interessante Details aus dem Studium
der Archäologie. Wir müssen auf die Jungen
hören, auf die Armen, auf die Nichtigsten.
Wir müssen zu den Steinen gehen und sie
umarmen sie mit unsrer Wärme tränken.
Wir müssen frische Luft schnappen, draußen
am Wasser, unter dem schiefergrauen Himmel
wo unsere Welt jeden Tag ein Steinchen mehr kollabiert.

Resümee: Gedichte ohne Attitüde, aber mit Sinn, Sound und Sensibilität, die Menschen, Orte und Situationen poetisch auf den Punkt bringen.“

Meral Şimşek: Feigenflecken

Der Auswahlband Feigenflecken stellt Prosa und Gedichte der kurdischen, auf Türkisch schreibenden Schriftstellerin und Dichterin Meral Şimşek vor, die vielfach für ihre Gedichte ausgezeichnet wurde. Darin erzählt sie, ähnlich wie in ihrem Roman, ihre eigene Geschichte als Mutter zweier Kinder und die ihrer Familie im Kontext der systematischen Verfolgung, Folter und Ermordung der Kurden in der Türkei der 1990er-Jahre.

Seit 2020 ist Meral Şimşek Mitglied des Kurdischen P.E.N.-Zentrums, seit September 2022 auch des PEN Berlin, wo sie seit ihrer Flucht aus der Türkei lebt.

Die Premiere des Buches findet beim Europäischen Literaturfestival in Köln-Kalk am 1. und 2. September statt, am 8. September liest sie beim internationalen literaturfestival berlin.

Meral Şimşek: Feigenflecken. Prosa und Gedichte. Mit Übersetzungen von Astrid Nischkauer, Nurcan Işık, Asiye Müjgan Güvenli, Wolfram Malte Fues, Hevin Karakurt und Vedat Ateş, 52 Seiten, Preis: 12,- € (Sonderdruck zum Europäischen Literaturfestival Köln-Kalk) – ab sofort lieferbar

Meral Şimşek, geb. 1980 in Mazıdağı und stammt aus Amed (Diyarbakır). Sie ist Schriftstellerin und Dichterin und Mitglied des Kurdischen PEN sowie des PEN Berlin. Sie veröffentlicht Gedichte, Romane und Kurzgeschichten und arbeitete als Redakteurin für verschiedene Zeitschriften und Verlage. Sie komponierte Musik und schrieb auch Liedertexte. Şimşek wurde mehrfach für ihre Texte ausge- zeichnet, im deutschsprachigen Raum mit dem Theodor-Kramer-Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil der Wiener Theodor-Kramer-Gesellschaft (2022).

Mátyás Dunajcsik: Verlorene Gedichte

„Du dachtest immer, dass Gedichte mit Blut, / Schweiß und Tränen auswendig gelernt und / nicht angehört werden sollten, vor allem nicht, / wenn sie dir ständig schmutziges Zeug / ins Ohr flüstern, wie make me your bitch, / use me any way you want. Aber jetzt, wo du / wirklich hörst, was dieses hier sagt, / bist du scharf darauf, genau das mit ihm zu tun.“

In seinem ersten auf Deutsch geschriebenen Gedichtband erkundet der ex-ungarische Autor Mátyás Dunajcsik die Irrungen und Wirrungen von Sprachwechsel und Emigration. Wie findet man seine Stimme in einer fremden Sprache wieder, nachdem die Muttersprache zu einem nutzlosen Krimskrams am Boden des Koffers geworden ist? Wie kann das gebrochene Geplapper eines frischen Einwanderers zur Poesie werden? Diese verlorenen und gefundenen Gedichte erzählen eine Geschichte von Herzschmerz und Heimatlosigkeit, Gewalt und Zärtlichkeit, Schmerz und Vergnügen, fernen Sternensystemen und uralten Zaubersprüchen, Verwüstung und Wiederauferstehung auf eine erfrischend direkte Art und Weise, in den Fußstapfen der besten Beat- und Punk-Poeten der Vergangenheit.

Die Premiere des Buches findet beim Europäischen Literaturfestival in Köln-Kalk statt, am 1. und 2. September.

Mátyás Dunajcsik: Verlorene Gedichte. Mit Zeichnungen von Krizbo, 92 S., 14,- € – ab sofort lieferbar

Mátyás Dunajcsik. Polyglott. Punk. Poet. Ex-ungarischer und neudeutscher Autor. Geboren 1983 in Budapest und lebt seit 2023 in Berlin. Wanderdichter in Emigration seit 2014. MA in Ästhetik (Kunsttheorie) und französischer Literatur. Arbeit bei ungarischen Verlagen als Foreign Rights Correspondent (Magvető) und Chefredakteur für Literatur (Libri). Zwei Winter in Reykjavík überlebt. Vier Bücher auf Ungarisch (Repülési kézikönyv, Gedichte und Kurzgeschichten, 2007; Balbec Beach, Kurzgeschichten, 2012; A szemüveges szirén, Kinderroman, 2016; Víziváros, Roman, 2021). Mehr als ein Dutzend Übersetzungen ins Ungarische aus dem Englischen, Französischen und Isländischen (Albert Camus, Oscar Wilde, Alain Robbe-Grillet, Vladimir Nabokov, Antoine de Saint-Exupéry, F. Scott Fitzgerald und unbekannte isländische Saga-Autoren, etc.). Aufenthaltsstipendien in Berlin (Junge Akademie, 2009) und Stuttgart (Akademie Schloss Solutide, 2016). Zwei ins Deutsche übersetzte Pro- sabücher (Der Boden unter Berlin, 2010, Akademie der Künste; Unterwasserstädte, 2017, Edition Solitude). Veröffentlichungen in Zeitschriften (Sinn und Form, Ostragehege, Signaturen, Triëre). Arbeitsstipendien von der Akademie der Künste (INITIAL, 2021) und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen (2022). Queer as fuck. Besitzt einen Fretless-Bass und einen isländischen Langspil, den er seltener spielt, als er sollte. Trinkt keinen Alkohol, singt aber gerne alte Seeballaden. Ist mit vier Katzen aufgewachsen, hat aber keine (zu viel schwarzes Leder im Haushalt).

Europäisches Literaturfestival Köln-Kalk 2023

Wir freuen uns schon sehr auf das 5. Europäische Literaturfestival in Köln-Kalk (ELK), das vom 1. bis 3. September 2023 zum Thema „Exil“ stattfindet. Natürlich wieder kostenlos und für alle zugänglich auf dem Ottmar-Pohl-Platz und in der Pflanzstelle!

1. September: 19-22 Uhr (Eröffnungslesung)
2. September: 14-22 Uhr (Einzellesungen und Festivalrede)
3. September: 10-15 Uhr (Matinée und Rahmenprogramm)

Das komplette Programm findet ihr hier: https://elk-festival.com/de/programm-2023

Im Hauptprogramm lesen dieses Jahr Kateryna Babkina (Ukraine), Tjawangwa Dema (Botswana), Mátyás Dunajcsik (Berlin/Ungarn), Asaf Dvori (Berlin/Israel), Radna Fabias (Niederlande) und Meral Şimşek (Berlin/Türkei). José F.A. Oliver (Hausach) hält die Festivalrede zu „Sprache und Exil“ und liest in der Matinée gemeinsam mit Mario Martín Gijón (Spanien). Suleman Taufiq (Aachen/Syrien) beschließt den Festival-Samstag.

Als Moderator:innen, Alumni oder deutsche und ungarische Stimmen sind Lisa Böttcher, Alexander Estis, Philipp-Bo Franke, Jelena Jeremejewa, Anna Pia Jordan-Bertinelli, Esther Harmat, Adrian Kasnitz, Elizaveta Khan, Jonas Linnebank, Francis Oghuma, Nasima Razizadeh, Leon Skottnik, Fatma Tuna, Mona Yahia u.a. zu sehen und zu hören.

Im Vorprogramm läuft am 30.8. der Film Sieben Winter in Teheran als Preview in den Lichtspielen Kalk (18.30 Uhr).

Kommt vorbei – wir freuen uns auf euch!

Das ELK 2023 wird präsentiert von Integrationshaus e.V., KLiteratur, KUNTS e.V. und der parasitenpresse.