Ein schmerzlich aktuelles Buch

„Mit Jelena Jeremejewas Seit September will ich nach Kiew. Ukraine-Tagebuch ist in der parasitenpresse ein schmerzlich aktuelles Buch erschienen, das man lesen sollte. Es sind Tagebucheinträge, beginnend mit dem 16.2., dem Tag an welchem die bereits seit vielen Jahren in Deutschland lebende Ich-Erzählerin zu einem Heimatbesuch in Kiew eintrifft, bis hin zum letzten Eintrag vom 1.5., der mit den Worten ‚Ich habe Angst vorm 9. Mai.‘ endet. Es tut weh, dieses Buch zu lesen, aber gerade deswegen ist es wichtig, es zu lesen. Im vollen Flieger nach Kiew herrscht am 16.2. zwar bereits bedrückte Stimmung, doch die anwesenden deutschen Journalisten haben ’noch zu lachen‘. Erzählt wird von den ersten Einträgen beispielsweise von einem Frisörbesuch und vom gemeinsamen Kochen ukrainischer Spezialitäten mit dem Vater. Unter der Oberfläche ist der drohende Krieg jedoch bereits präsent, auch wenn er von den Anwesenden noch ausgeblendet wird: ‚Es gelingt und ist köstlich!'“, schreibt Astrid Nischkauer in einer Besprechung des Buches in der Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und Widerstands der Theodor-Kramer-Gesellschaft (Wien).

Und weiter: „Es ist beeindruckend, wie differenziert Jelena Jeremejewa so knapp nach den Geschehnissen, die immer noch andauern, über den Krieg schreiben kann, über das, was ihr und anderen widerfahren ist und widerfährt. Bemerkenswert auch das große Verständnis, das die Erzählerin ihren Mitmenschen entgegenbringt – selbst ihrer in Russland lebenden und der dortigen Kriegspropaganda Glauben schenkenden ehemaligen Schulfreundin. Als Ganzes lässt sich der Band als Versuch lesen, nicht direkt vom Krieg Betroffenen verständlich zu machen, was in aus der Ukraine Geflüchteten vorgeht, was sie durchgemacht haben und dass sie vor allem ganz einfach Menschen sind.“

Bewegung des Ausweichens und der Subversion

„Der Begriff der Meuterin verweist auf eine Ambivalenz, die zentral für Demas Gedichte ist: dass nämlich diejenige, die hier spricht, aus mindestens zwei Gründen in Bewegung ist. Erstens, weil sie zur Bewegung genötigt wird; und zweitens, weil sie selbst Bewegerin ist, sich aus sich heraus in Bewegung setzt. So wird Bewegung in Demas Gedichten stets in doppelter Hinsicht behandelt: als Flucht- und Widerstandsbewegung, als Bewegung des Ausweichens als auch der Subversion“, schreibt Lilith Tiefenbacher über Meuterin von Tjawangwa Dema in einer ausführlichen Besprechung für das Signaturen-Magazin. Und weiter: „Bis zur Berührung werden diese Pole einander angenähert, besonders eindrucksvoll in dem gleichnamigen Gedicht MEUTERIN. Während die ersten zwei Strophen die Erfahrung von Ohnmacht artikulieren (‚Ich wurde entdeckt / ein Bein zum Licht gestreckt // Sie holen mich / während ich nackt bin wie Wüstensand‘), findet in der dritten und vierten Strophe eine Verwandlung vom Patiens zum Agens statt, und zwar am Körper der Sprecherin selbst. Eben noch der Natur bloß verwandt (‚wie Wüstensand‘), entdeckt sie sich nun als eins mit ihr: ‚ich bin Regen / zwischen Schenkeln / ich bin Wald, lasse alles neu wachsen.‘ Diese Anverwandlung ist jedoch kein ‚Zurück zur Natur‘, kein Rückzug auf den Bereich des ‚Natürlichen‘, um dort Schutz vor den Grausamkeiten der Zivilisation zu finden, sondern ein Anknüpfen an die Natur – ein In-Beziehung-Treten, das sich von Ausbeutung und Unterjochung unterscheidet (…) Die Widerständigkeit der Meuterin Demas besteht in ihrer Aneignung des Schöpferischen, und zwar im doppelten Sinne: als wiedergefundene (säkulare) Beziehung mit ‚der Schöpfung‘ sowie im Wirksamwerden als Künstlerin. Demas Gedichte grenzen sich insofern auch von einem (vornehmlich weißen) Feminismus ab, der in seiner Theoriebildung patriarchale Denkmuster wie die Idealisierung des Rationalen und ein Misstrauen gegenüber allem Leiblichen tradiert.“ Die ganze Besprechung ist hier nachlesbar.

Tjawangwa Dema: Meuterin

Unsere internationale Lyrikreihe setzen wir mit Gedichten der botswanischen Dichterin Tjawangwa Dema fort, die Anna Pia Jordan-Bertinelli ins Deutsche übertragen hat. „Die Verknüpfung von Gender und körperlicher wie emotionaler Arbeit zieht sich durch die Gedichte von Tjawangwa Dema: Mal in Gestalt der sorglosen (oder leichtfertigen, nachlässigen, achtlosen) Schneiderin, mal als Mutter, Tochter oder Schwester, als Ehefrau, Arbeiterin oder Meuterin. Dema richtet ihren Blick auf das, was gleichermaßen alltäglich wie übersehen ist, auf diejenigen, die ‚[s]chaffen im Schatten / und im Licht [sich] begnügen / mit Dingen wie Atem und Brot‘ (Frauen wie du). Der weibliche Körper, gerade in der Lyrik oft als makellos dargestellt, ist hier eben kein Ausstellungsobjekt: Er ‚blutet und vernarbt, altert, leistet Widerstand und warnt‘, wie es im Klappentext des Originals heißt. Die Frauen in Demas Gedichten erheben ihre Stimme und ihren Blick, artikulieren den female gaze auf eine männlich dominierte Landschaft” (aus dem Nachwort).

MEUTERIN

Ich wurde entdeckt
ein Bein zum Licht gestreckt

Sie holen mich
während ich nackt bin wie Wüstensand

Feucht hinterm Ohr / ich bin Regen
zwischen Schenkeln / ich bin Wald, lasse alles neu wachsen

Ich bin Sand, lasse die Fülle der Jugend verrinnen
Ich bilde Kiemen im Namen eines aufziehenden Sturms

Tjawangwa Dema: Meuterin. Gedichte aus dem Englischen von Anna Pia Jordan-Bertinelli, 60 Seiten, Preis: 12,- € – ab sofort lieferbar

Tjawangwa Dema / TJ Dema (*1981, in Gaborone/Botswana) ist Dichterin, Kulturschaffende und Honorary Senior Research Associate an der University of Bristol. Sie kuratiert und produziert Literaturfestivals und Veranstaltungen und hält Seminare und Workshops an Universitäten, Schulen und anderen Institutionen. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte war sie u.a. beim Literaturfestival Stimmen Afrikas, beim Poesiefestival in Berlin sowie bei zahlreichen weiteren internationalen Literatur- und Poesieveranstaltungen zu Gast. Ihre Gedichte wurden als Songtexte sowie für Theater- und Tanzperformances adaptiert, auf Postkarten aus einem Hubschrauber über London abgeworfen und unter anderem ins Spanische, Chinesische, Kroatische, Portugiesische und Deutsche übersetzt. 2020 war ihr Gedicht Lethe das Festivalgedicht des ZEBRA Poetry Film Festivals. Eine Auswahl ihrer Gedichte wurde 2014 unter dem Titel Mandible in der Reihe New-Generation African Poets des Afrika Poetry Book Fund veröffentlicht. Ihr Band The Careless Seamstress, aus dem die hier ausgewählten übersetzten Gedichte stammen, wurde 2018 mit dem Sillerman First Book Prize For African Poets ausgezeichnet.

Anna Pia Jordan-Bertinelli, geb. 1991 in Aachen, studierte Germanistik und Skandinavistik in Tübingen und Köln. Vor und während des Studiums Auslandsaufenthalte in Asker, Oslo und Turin. Zurzeit lebt sie in Köln und Johannesburg/Südafrika und übersetzt aus dem Norwegischen und Englischen. Für die parasitenpresse übersetzte sie Hatte Kurt Cobain eine E-Mail-Adresse? von Audun Mortensen aus dem Norwegischen (2019).

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.

Izabela Morska: Madame Intuita

Die Madame Intuita aus dem gleichnamigen Gedichtband der Danziger Dichterin Izabela Morska ist eine Antwort auf Zbigniew Herberts Pan Cogito aus feministischer Perspektive. Madame Intuita nimmt uns mit auf eine Reise durch ihre soziale und philosophische Biographie, die die einer selbstbestimmten Frau ist. Emigration, Sprache, Widerstand gegen Ausgrenzung sind weitere Themen des Bandes. „Eine unbenutzte sprache ist wie wasser / rinnt durch die finger die schnell leer / und feucht sind hinterlässt den geschmack eines glitzernden / vergnügens (…)“. Die Berliner Dichterin Anna Hetzer übersetzte den Band, der als Sonderdruck zum Europäischen Literaturfestival in Köln-Kalk erschienen ist.

Izabela Morska: Madame Intuita. Gedichte aus dem Polnischen von Anna Hetzer, 44 Seiten, Preis: 10,- € – ist ab sofort lieferbar (Sonderdruck)

Cover Morska

Izabela Morska, geb. 1961 in Gdynia, veröffentlichte mehrere Gedichtbände, Romane und Sachbücher und ist eine der wichtigsten Stimmen der polnischen Literatur der letzen Jahre. In ihren Kurzgeschichten schließt Morska vernachlässigte und subversive Erzählformen ein, die Frauen, queere und ausgeschlossene Charaktere in den Mittelpunkt stellen. Ihre Stimme sei eine „eindeutig persönliche“, wie Maria Janion, die Historikerin der polnischen Gegenkultur, bemerkt. Ihr neuestes Buch Znikanie (Das Verschwinden) erscheint im Oktober 2019 bei Znak und ist die Erinnerung an Krankheit als eine Reise. Lyrik schreibt sie seit ihrer Jugend und hat eine eigene Mythologie entwickelt. Madame Intuita (2002) ist der einzige veröffentlichte Gedichtband. Außerdem veröffentlichte sie Glorious Outlaws: Debt as a Tool in Contemporary Postcolonial Fiction (Peter Lang 2016). Sie erhielt den Julian-Tuwim-Preis (2018) für ihr Lebenswerk. Nach Studien u.a. in Berkeley unterrichtet sie am Institut für Anglistik der Universität Gdańsk.

Anna Hetzer, geboren 1986 in ein deutsch-polnisches Elternhaus, lebt seither in Berlin. Bis 2015 Studium der Medizin und Philosophie. Zuletzt erschien Kippbilder im Verlags- haus Berlin 2019. Sie war Stipendiatin der Villa Decius in Krakau 2017, sowie Finalistin beim Lyrikpreis Meran 2018. Mit dem Lyrikkollektiv G13 erkundet sie Formen des kollektiven Schreibens; mit Künstler*innen der Neuen Musik oder der Gebärdensprachkunst arbeitet sie regelmäßig an intermedialen Projekten.

Christoph Danne: Aufwachräume

Als weiterer Gedichtband unserer Reihe Die nummernlosen Bücher erscheint heute Aufwachräume von Christoph Danne. „Es gibt eine Bemerkung des Philosophen Roland Barthes, sinngemäß: Sobald wir auf den Auslöser drücken, um ein Foto zu machen, erstirbt das Motiv. In diesem Prozess, dort Zeugenschaft herzustellen, verfängt Dannes Poesie. Wir spüren ihre aufwühlende Unbehaustheit, die herausgeschnittene Zeit, den steten Nachklang. Und dann, nachts, in irgendeinem Zimmer, wenn unten die S-Bahn vorbeikommt, ziehen weiße Blitze durchs Bier“, schreibt Dominik Dombrowski zu den Texten. Diese sind oft mit „mit kleinen Graffiti oder Kritzeleien“ (Fixpoetry) an der weiß gekalkten Wand verwandt und somit Botschaften des Widerstandes gegen eine eindimensionale Welt.

Das Buch wird am 26. April im Literaturklub Köln und am 27. April in der Lettrétage Berlin präsentiert.

Christoph Danne: Aufwachräume. Gedichte, 60 Seiten, Preis: 10,- € – jetzt erschienen

Danne_Cover
Christoph Danne, geb. 1976 in Bonn, Studium in Berlin, Salamanca und Köln, lebt und arbeitet in Köln. Neben dem band das halten der asche (parasitenpresse 2014) erschienen die Gedichtbände finderlohn (2011) und shooting stars (2015). Danne erhielt mehrere Auszeichnungen u.a. den Postpoetry-Preis. Er veranstaltet die Lyrik-Lesereihe HELLOPOETRY! in Köln und betreibt den tauland-verlag.