Rückspiegel an den Fenstern

„Von unten. Vorausgeschickt sei im Sinn der Transparenz, dass ich mich Köln und besonders seinen weniger begüterten Bewohnern seit den frühen 1970ern verbunden fühle. Da war ich in der Stadt einige Zeit als Straßenmusiklehrling, angeleitet von ansäßigen Helden des Genres wie Fliege und Klaus dem Geiger.
Was wir damals oft nebenbei an Geschichten zu hören bekamen, ist der Stoff, aus dem Alexander Estis seine Miniaturen über das Veedel (Grätzl) Kalk formt. Er hat dort urbane Legenden gesammelt, eine Gattung, die wie Märchen gemeinsamen Ängsten, Wünschen und Träumen entspringt; C.G. Jung würde sagen: dem kollektiven Unterbewussten. Im ersten Text bringt dieses eine Frau ohne Augen und Nase hervor, die trotzdem alles beobachtet, eine Erfahrung, die jeder nachvollziehen kann, der Wiener Wohnungen mit Rückspiegeln an den Fenstern kennt. Solche Geschichten aus dem Weichbild der Wirklichkeit können auch witzig sein, wenn es etwa um türkische TV-Sendungen geht, deren Ton durch Rohrleitungen in alle Wohnungen eines Hauses übertragen wird.
Immer wieder dringt freilich der naturalistische Hintergrund durch. Vergewaltigung, Prostitution, Drogen, Altersarmut. Dem muss man sich stellen: ‚Wenn der Mann noch einmal meine Töchter anguckt, dann schneide ich ihm mit dem Fischmesser den Penis ab.‘ (S. 54).
In der Ära überschwappender Soaps wirken die Protagonisten dieser Texte seltsam gelassen, wenn sie täglichen Ärgernissen und existiellen Problemen ohne Pathos und oft selbstironisch begegnen. Vermutlich verfügen Drama Kings und Queens über Energie, die viele Menschen in Quartieren wie Kalk brauchen, um nicht in die Gräben zwischen Einkommen und Miete oder zwischen Leistung und Gesundheit zu fallen.
Der Autor erzählt Alltagsgeschichte und Skurrilitäten, Tragisches und Weggetretenes, Romantisches und Kriminelles, weshalb es schade ist, dass es nach knapp 90 Seiten schon zu Ende ist“, schreibt Gerald Jatzek in einer Besprechung der Legenden aus Kalk von Alexander Estis in etcetera (93/Okt. 2023), der Literaturzeitschrift der Literarischen Gesellschaft St. Pölten.

Scharfkantiges Kalk

„Ein idealisiertes, romantisierendes Bild mit Zusätzen von Arbeiterviertel-Folklore zeichnet Alexander Estis jedenfalls ganz und gar nicht“, schreibt Hans-Willi Hermans in einem Bericht über die Buchvorstellung der Legenden aus Kalk im Kölner Stadt-Anzeiger (14./15.4.22). „Repräsentativ für das ganze Viertel sollen die versammelten Geschichten ausdrücklich nicht sein. Doch man wundert sich schon, wie unterschiedlich die Einstellungen und Perspektiven der Menschen sind, die er – mit dem Blick des Literaten – meist spontan und intuitivan gesprochen und gebeten hat, eine persönliche Geschichte über Kalk zu erzählen. Die hat Estis häufig noch überarbeitet, Namen und andere, leicht identifizierbare Details verändert. Als Veedelsschreiber unterwegs war er (…) Vorgesehen war zunächst eine Dauer von knapp zwei Monaten, doch Alexander Estis (…) blieb ein knappes Jahr. Was im voll besetzten Sünner-Keller natürlich für viel Applaus sorgte. Ob er denn nach all den Monaten den Stadtteil Kalk auf einen Begriff bringen, ihn in einem Satz zusammenfassen könne, wird der Autor gefragt. Nein, antwortet der, mit jedem Gespräch sei das schwieriger geworden, sei ihm bewusster geworden, wie viele Facetten so ein Veedel hat. An ein Kaleidoskop oder ein Mosaik erinnere ihn das. Man könnte auch an eine Collage denken, bei der die einzelnen Bestandteile ja nicht zueinander passen, sondern häufig ohne Übergänge scharfkantig nebeneinander gestellt sind, und gerade in ihrer Unterschiedlichkeit belassen ein interessantes, manchmal faszinierendes Ganzes ergeben.“

Alexander Estis: Legenden aus Kalk

Als Veedelsschreiber in Köln-Kalk hat Alexander Estis Geschichten aus dem Veedel gesammelt – von kleinen Beobachtungen bis hin zu ganzen Biographien, von urbanen Mythen bis hin zu veritablen historischen Studien, von trivialen Alltagserlebnissen bis hin zu religiösen Visionen, von skurrilen Bagatellen bis hin zu tragischen Schicksalswendungen. In den Legenden aus Kalk geht es um Geister, Macheten und Fischaugen, um Heizungsrohre und Tik-Tok-Stars, um Holzwürmer, Janosch-Enten, Atombomben und die GSG9, um Trümmerfrauen und Mafiamänner, um Beinamputationen und Altäre aus Felgen, um violette Geigen, bunte Kaftans, nackte Verkehrsregler und wiederauferstandene Tote, um Einbrüche im Schutz von Matratzen, persische Prinzessinnen in Dönerläden und Bodenbelag aus Kirchenwachs.

Die Premiere findet am 31. März um 19 Uhr im Sünner Brauhaus statt. Bitte hier anmelden!

Legenden aus Kalk – Nach Erzählungen der Menschen eines Kölner Veedels, nacherzählt von Alexander Estis, mit einem Grußwort von Henriette Reker, 94 S., Preis: 12,- € (erscheint außer der Reihe) – ab sofort lieferbar

Alexander Estis wurde 1986 in einer jüdischen Künstlerfamilie in Moskau geboren; 1996 siedelte er mit seinen Eltern nach Hamburg über. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er als Dozent für deutsche Literatur an verschiedenen Universitäten. Seit 2016 lebt er als freier Autor in Aarau. Im Jahr 2021 verbrachte er mehrere Monate als Veedelsschreiber in Köln-Kalk. Zuletzt erschien von ihm in der parasitenpresse: Handwörterbuch der russischen Seele.