Ich bilde Kiemen

„Der Gedichtband Meuterin der botswanischen Dichterin Tjawangwa Dema verleiht unterschiedlichen Frauenfiguren eine lyrische Stimme. Es geht in den Texten um die Rolle als Mutter, als Schwester, Ehefrau, als Arbeiterin oder eben auch als Meuterin,“ schreibt Christoph Ohrem in einer Besprechung in der Bücher-Sendung bei WDR5 über den Band.

Und weiter: „In dem Gedicht Frauen wie du heißt es: ‚Frauen wie du / packen das Messer bei der Klinge, / das Fläschchenchaos der Kinder / ist Morgenroutine.‘ Diese drastische Beschreibung von Mutterschaft, das schmerzhafte Aufschneiden der eigenen Hände, stellt Tjawangwa Dema in den nächsten Zeilen in einen gesellschaftlichen Kontext, denn diese Frauen wie du ‚Schaffen im Schatten‘, ‚So lautet der Vertrag.‘ (…) Entgegen der literarischen Tradition zelebriert Tjawangwa Dema Weiblichkeit weder als anbetungswürdiges Schönheitsideal, noch erotisiert sie diese. Sie schreibt vom Kampf um den Körper, markiert im titelgebenden Gedicht die Frau als Meuterin gegen die Verhältnisse: ‚Ich bilde Kiemen im Namen eines aufziehenden Sturms‘. Mit Kiemen überlebt ein Mensch die reinigende Sintflut, den aufziehenden Sturm gesellschaftlicher Veränderung.

Einen guten Einstieg in diese Forschung ist das Nachwort der Übersetzerin Anna Pia Jordan-Bertinelli. In diesem persönlichen kurzen Essay gibt sie Einblick in ihre Arbeit, nennt Beispiele, wie und warum sie sich für gewisse Varianten in der Übersetzung entschieden hat, und greift schließlich auch den Diskurs auf, der so prominent in den letzten Jahren wegen der Übersetzung von Amanda Gormans The Hill We Climb verhandelt wurde. Wer kann oder darf Gedichte von Schwarzen übersetzen? Anna Pia Jordan-Bertinelli Konsequenz sei es, ‚mit Dema selbst und dem Verlag […] zu sprechen, mich selbst und meine (Übersetzungs)entscheidungen immer wieder zu reflektieren und eine Sensitivity Readerin in den Übersetzungsprozess einzubeziehen‘.“ Die ganze Besprechung kann man hier nachlesen.

Sein Blick ist politisch, sein Sound ist mondän

„Es ist eine traditionsreiche Strecke, die Pablo Jofré bereist. Und doch reist er viel weiter, als es die Strecke der transsibirischen Eisenbahn eigentlich vorsieht. Er reist von Wladiwostok über China nach Manila, die Hauptstadt der Philippinen, weiter. Ein langer Trip, den er in pointierten Beobachtungen einfängt“, schreibt Christoph Ohrem über Berlin – Manila von Pablo Jofré, das diese Woche bei WDR5 Bücher Thema ist, zu hören am Samstag (20.04-21 Uhr) und Sonntag (15.04 bis 16 Uhr).

„Sein Blick ist politisch, sein Sound ist mondän. Mühelos schreibt er sich in die Begegnungen mit Menschen und Orten ein. In 19 Gedichten folgt dieser Zyklus in lockerer Anordnung den Stationen der Reise. Mit wenigen scharfen Bildern schafft Pablo Jofré es, Zeitgeist und Atmosphäre von Orten einzufangen.

In seinem Eingangsgedicht heißt es etwa, er ‚reise beladen mit schillernden Bars / mit der mittelalterlichen Hysterie der Beamten // bringe schlaffe traurige Flügel mit / einen Regierungskater aus Merkelandia‘. Dass Pablo Jofré die Reise vor Coronapandemie und Regierungswechsel angetreten hat, nimmt den Texten nichts von ihrer Genauigkeit. Der Beginn der Reise ist wie das Erwachen aus einem Traum, dem Nachhausekommen nach durchfeierter Nacht. Ich ‚komme von der After-Post-Party / geblendet von der grellen Sonne / der grellen Wirklichkeit‘.

Die Berliner After-Hour ist erst einmal vorbei, der Westen aus dem Zusammenbruch des Ostblocks nicht als strahlender Sieger hervorgegangen, die Geschichte nicht zu Ende. Die Reise kann beginnen. Die Gedichte sind in freier Form geschrieben. Sie sind so sehr verknappt, dass der Autor sich auch keinen Raum für Satzzeichen lässt. Alles hängt mit allem zusammen, die Zeilen sind einziges Ordnungsprinzip der durchnummerierten Texte. Und doch steht am Ende jedes Gedichtes artig ein Punkt.

Pablo Jofré seziert die Gesellschaften, die er bereist. Beißende Kritik an Herrschaftsstrukturen etwa in Moskau, über das er schreibt: ‚das Imperium brüllt hier / in der Stille seiner Eingeweide der Angst / ABSOLUTE MACHT von Strafe und Belohnung‘. Und dann wieder kleidet er große Landstriche in wenige Zeilen. ‚Hinter uns verschwindet der Planet Gogol / multiethnisches Territorium / in zeitloser Ausdehnung / vom Schwarzen Meer zum Kaspischen Meer / von der Ostsee zum Pazifik‘.

Wenige Zeilen, die trotz ihrer Nüchternheit viele Bilder hervorrufen. Pablo Jofré kommt aus Chile und lebt seit vielen Jahren auf der Achse Berlin Madrid. Er hat Literatur, Anthropologie, Journalismus und Übersetzung studiert.

Sein Gedichtband Berlin – Manila erschien 2019 auf Spanisch. Seit Dezember liegt die deutsche Übersetzung von Odile Kennel im Verlag Parasitenpresse vor. Nicht zuletzt wegen der dem Band beigefügten Schwarz-Weiß Fotografien eine lohnende Reise.“

Eine Flammenschrift, ein Meisterwerk

„Neun Lyrikbände hat er bisher verfasst, und jetzt ist eine Sammlung seiner Gedichte auf Deutsch erschienen, die den jungen Venezolaner auch in Deutschland bekannt machen dürfte. Auf dem Kopf durch die Nacht ist die Beschreibung eines wahr gewordenen Albtraums in Versen. Vom ersten Gedicht (‚Caracas, die Sterbenden grüßen dich nicht‘), das beginnt mit ‚Schon haben sie keine Hände mehr, die sie heben können/man hat sie ihnen abgeschnitten/ihnen entrissen …‘), bis zum letzten Gedicht ‚Freies Geleit‘ ist dieses Buch der Versuch, das Unbeschreibliche in Worte zu fassen“, schreibt Matthias Ehlers über die Gedichte von Adalber Salas Hernández für die Bücher-Sendung bei WDR5.

Seine „Lyrik erzählt von Demoralisation, Auflösung, Zerfall und Agonie eines Landes, das die höchste Mordrate Lateinamerikas hat und trotz der weltweit größten Erdölreserven seine Einwohner verhungern lässt, die am ‚Gestank der Mülltonnen ersticken‘. Vor diesem Hintergrund verblassen selbst die seltenen positiven Bilder, die Adalber Salas Hernández findet, wenn er z. B. über seine Großmutter schreibt: ‚Ich habe nie rausgekriegt ob sie auch schlief oder aufs Morgenrot wartete, das sanfte Husten der Vögel hörend …‘ (…) Auf dem Kopf durch die Nacht ist eine Flammenschrift, ein Meisterwerk in guter lateinamerikanischer Tradition von Ruben Dario und Pablo Neruda, geschrieben für die, die es angeht.“

Kann man Wunder löschen?

„Kann man Wunder löschen? Hinter dem mysteriösen Titel verbirgt sich eine ausgezeichnete Sammlung zeitgenössischer Lyrik aus Portugal“, schreibt Matthias Ehlers für WDR5 Bücher über unsere Anthologie Wie man ein Wunder löscht. Und weiter: „Die Gedichtsammlung kommt aus dem kleinen, aber feinen Kölner Verlag Parasitenpresse, der sich seit über 20 Jahren auf Lyrik und Kurzprosa spezialisiert hat. Dafür wurde er 2021 mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet. Ehre wem Ehre gebührt. ‚Mit den Gedichten der acht Lyrikerinnen und Lyriker möchten wir vor Augen führen, wie kulturell und politisch divers die portugiesische Gegenwartslyrik ist.‘ Das schreiben im Nachwort Beatrice Cordier und Laurine Irmer, die für Auswahl und Übersetzung verantwortlich sind.

Genau gesagt sind es sechs Lyrikerinnen und zwei Lyriker, die hier den geneigten Leserinnen und Lesern von dem erzählen, was sie bewegt und zu Gedichten inspiriert hat. Thematisiert werden die eigene Seelenlage, Verreisen, die koloniale Vergangenheit Portugals, die nach wie vor mächtige katholische Kirche in Portugal, gesellschaftliche Traditionen und einiges mehr.

Sich selbst, private und politische Situationen reflektierend, sind den relativ jungen Lyrikerinnen und Lyrikern eindringliche Gedichte gelungen, die bisweilen drastisch im Ausdruck, selten hermetisch und oft durchaus komisch sind.

Wie man ein Wunder löscht ist eine immer interessante und sehr lesenswerte Anthologie, die jederzeit zu empfehlen ist“. Hier ist der Link zum Beitrag. In der Sendung lief übrigens das Gedicht Jenny von Sara F. Costa.

Exzellente Gedichte aus dem dämmrigen Lettland

„Es sind traurige Gedichte, die von Einsamkeit und Entfremdung künden, aber gleichzeitig und oft grotesk-komisch sind. Das gelingt Zeļģis auch durch seine wunderbar lakonischen Darstellungen der Menschen, mit denen er es zu tun hat“, schreibt Matthias Ehlers in seiner Besprechung von Krišjānis Zeļģis‘ Gedichtband bei WDR5 Bücher, wo auch das Gedicht Ich habe auf den Wal gewartet ausgestrahlt wurde. „Wilde Tiere birgt eine großartige Sammlung exzellenter Gedichte, die jedes für sich eine kleine, einzigartige Geschichte aus dem dämmrigen Lettland des Krišjānis Zeļģis erzählen. Diesen Band sollte man jederzeit zur Hand haben – auch wenn man wissen will, wie man wilden Tieren hierzulande poetisch begegnet. Ganz feine Lyrik!“

Nach der Krise: Durchstarten?

Über die Corona-Krise, die Auswirkungen auf die Kultur und Möglichkeiten der Förderungen diskutierten Roland Schappert und Ilka Helmig (aus der Perspektive der Bildenden Kunst) mit der NRW-Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen und dem Vorsitzenden des Kulturrats NRW Gerhart Baum. Das Gespräch, das im Düsseldorfer Kunstverein Malkasten aufgezeichnet wurde, kann man jetzt bei WDR3 nachhören.

Im Fieber

Das Gedicht Im Fieber aus dem Band die idiotische wucht deiner wimpern von Sünje Lewejohann läuft bei WDR5 Bücher. Dazu schreibt Matthias Ehlers in seiner Besprechung: „Sünje Lewejohann schreibt in direkter Sprache und hat einen einzigartigen Sound. Damit erzielt sie harte Wirkungstreffer, insbesondere da, wo sie sich an frühe Zeiten und frühe Übergriffe erinnert. Schonungslos gegenüber sich und anderen Protagonisten, mal rau, mal zart im Ton, hat Sünje Lewejohann Lyrik geschaffen, die am nächsten Tag noch nicht abgeklungen ist. Sollte man unbedingt auf dem Zettel haben.“ Den ganzen Text kann man hier nachlesen.

Cover Lewejohann

Viele Juwelen

„Viele Juwelen gibt es zu entdecken, fein gewebte Gedichte sind sie allesamt und inhaltlich sowie formal modern im besten Sinne des Wortes. Lyrik kann Einblicke in andere Welten herstellen, und dieses großartige Buch mit wundervollen Gedichten bietet dazu eine sehr gute Gelegenheit. Also, nix wie ran! Lernen wir die neuen Brüder und Schwestern aus Israel kennen!“ schreibt Matthias Ehlers über unsere hebräische Anthologie Was es bedeuten soll bei WDR5 Bücher. In der Sendung lief das Gedicht Haus von Tali Okavi aus dem Band.

Cover Hebrew4

Kleine Roadmovies

Lidija Dimkovska nimmt uns mit in eine Welt, die auch noch viele Jahre nach den Jugoslawienkriegen geprägt ist von den schweren Verletzungen an Körpern und Seelen der Menschen, die in diesen Kriegen gelitten haben. Es sind Gedichte über sie selbst und über Menschen, die Lidija Dimkovska auf der Straße und dem Markt trifft oder die sie als Familienväter, Mütter oder Kinder kennt. Deren Ängste und Traumata, deren Veränderungen und Verstümmelungen fasst sie in Worte, die konkrete Geschichten erzählen, dabei aber immer noch Poesie bleiben“ schreibt Matthias Ehlers über den Band Schwarz auf weiß in einer Besprechung bei WDR5 Bücher. Und weiter: „Lidija schreibt extrem gute Gedichte, die bisweilen wie kleine Roadmovies anmuten und unter die Haut gehen, dabei den Leser aber nicht in den Zustand der Schockstarre versetzen. Fast beiläufig, wie im Vorbeischlendern, erzählt sie in unaufdringlicher, glasklarer, äußerst prägnanter und bilderstarker Sprache die Geschichten, die sich hinter den Menschen und Dingen verbergen, ohne jemals in irgendeiner Form politische Positionen einzunehmen.

Cover Dimkovska