Ausflug ins Unbekannte

„Der Band enthält mehrere Zyklen, deren Titel als Synonyme für die Suche nach Sprache aufgefasst werden können – ‚Klemmton‘, ‚Das Gedicht im Gebirge‘, ‚Schreibers Ort‘. Alles ist fremd bei den ersten Erkundungen des Terrains“, schreibt Axel Helbig in den Dresdner Neuesten Nachrichten (06.07.22) über Schreibers Ort von Patrick Wilden, dem im Gerhart-Hauptmann-Haus in Jagniątków entstandenen Gedichtband. Und weiter: „Der Dichter/Schreiber versteht nicht, was die Radiostimmen, was die Schilder sagen. Im ‚Sprachgebäude‘ zu leben, heißt, ‚unter freiem Himmel zu schlafen // Es regnet durch / und ständig weht Wind‘. (…) Was soll er schreiben ‚im Haus voll Geist und Glorie‘? ‚Büsten schlafen in den Ecken // wenn du abends die Schuhe ausklopfst / rieseln Nadeln und kleine Steine auf die Dielen / wie fremde Wörter aus dem Lexikon‘. ‚Es ist wie ein Anfang ohne Beginn / der Blick in die Weite verstellt‘. Der Band liest sich mitunter wie ein Roman, in dem der Schreiber (Wilden) der Protagonist ist. ‚Ungezählte Gemarkungen‘ muss er ablaufen und ‚auf die aufprallenden Wörter‘ lauschen, bis sich die Nebel an ‚Schreibers Ort‘ lichten: ’nach ein paar Tagen kennst du die Raubvogelrufe / das Krachen einer stürzenden Buche / den Geruch von geschlagenem Holz / auf halber Höhe // du hast dich mit Wörtern beladen, die du nicht kennst / und trägst sie die Wege entlang / du findest wieder zurück / zu der winzigen Stimme / in deiner Hand‘. (…)

Erst einmal heimisch geworden, geht dem Dichter das Schreiben von der Hand, entwickelt er ein Ohr für den Klang der hiesigen Sprache, schärft den Blick auf die Menschen und die geschichtsträchtigen Orte. Die ‚winzige Stimme‘ wird kraftvoll und setzt zum Höhenflug an: ‚Ich wohne auf der Höhe der Vögel / sie schreien mich an / … / Ich wohne auf ihrer Höhe bin / ihr Dirigent dunkler Hüter / einer Wolke aus Klang‘. Auch die Natur wird nun lesbar: ‚Wir sind eins / das Geräusch von Bäumen / mit Wasser vollgesogen nach der Nacht / der Nebel der die Welt dahinter / zu Ende sein lässt // Die Klänge und ich / mein Pfeifen im Wald / wir sind eins‘.

Schreibers Ort findet zu einer schönen gediegenen Sprache und zu Bilder, die man sich gern zu seinen eigenen macht. Ein Buch, das Lust auf Gedichte macht. Besser kann es nicht kommen.“

Ohne Ballast und Extravaganz

„In der deutschen Erstübersetzung (…) der bostwanischen Dichterin Tjawangwa Dema ziehen Verse auf der Oberfläche mit leichtem Klang davon, ihre Sprache trägt keinen unnötigen Ballast, keine Extravaganz der Metaphern“, schreibt Şafak Sarıçiçek über Meuterin in einer Kurzbesprechung in der Salzburger Mosaik-Zeitschrift (37/2022). Und weiter: „Dema ist Meisterin unendlicher, weil paradoxer Bedeutungen, was in der leidenschaftlichen Übersetzung Anna Pia Jordan-Bertinellis neue Kraft gewinnt. Wortzerspaltungen trägt Dema vom Einzelnen bis in die Poltik, ganz leicht, wie es ihr eigen ist.“

Schatzkammern

Die „Grundkonstanten der Wahrnehmung bildender Kunst macht Astrid Nischkauer in ihrem Gedichtband du Wundergecko sichtbar. Die Autorin präsentiert über 90 Miniaturen, von denen ein Großteil der Texte sich je einem Kunstwerk widmet – unterbrochen nur von einem kurzen Zyklus, der während des Lockdowns entstanden ist und sich mit Naturwahrnehmung/ Naturbetrachtung befasst. Die Objekte werden in wenigen Sätzen so beschrieben, dass sie vorstellbar werden, die Lesenden ein Bild davon entwickeln können. Die Deskription der Ausstellungsstücke ist schlicht, nahezu ohne Verwendung rhetorischer Mittel, nah an der Prosa unter Verzicht auf den Lesefluss bremsende Satzzeichen. Ebenso wie die Augen der Museumsbesucher bei der Betrachtung über ein Gemälde oder eine Skulptur mäandern, wandern die Augen der Lesenden über die hypotaktischen Sätze und Enjambements Nischkauers hinweg. Dabei entsteht der Eindruck, dass die Gedichte aufgrund ihrer Kürze und ihres Zeilenbruchs durch den weiß verbleibenden Teil der Seite gerahmt sind. Sie verkörpern Sprache, herausgelöst aus der Zeit und dem Raum“, schreibt Andreas Hutt in einer Besprechung des Bandes im Signaturen-Magazin. „Was du Wundergecko von Astrid Nischkauer lesenswert macht, (…) [ist] das Konzept des Bandes, die Betrachtung bildender Kunst lyrisch fruchtbar zu machen, indem man Museumsbesuche sprachlich abbildet. So schreiten die Lesenden im ‚Wundergecko‘ von Gedicht zu Gedicht wie ein Museumsbesucher von Bild zu Bild schreitet.“ 

Wo das Dunkle zum fluoreszierenden Regenbogen wird

„Nicht nur die starken Bilder sind es, die sich in die Erinnerung einprägen werden, sondern auch Augenblicke der Leseerfahrung, die gar nicht so leicht beschrieben werden können, dennoch einer jeden konzentrierten Leserin bekannt sein müssen“, schreibt Verena Stauffer in einem ausführlichen Kommentar zu Schwarz auf weiß von Lidija Dimkovska in der aktuellen Ausgabe von Der Hammer. Die Zeitung der Alten Schmiede (111/2020).

Und weiter: „Es ist das, was Sprache auch zu Kunst macht, es sind Verse, in welchen die Sprache nicht mehr nur als Handwerk fungiert, das zur Artikulation und Verständigung dient, sondern durch welche sie gleichsam ins Bewusstsein eintritt, um dort einen Moment der Erhellung, der Klarheit, der Erweiterung zu erzeugen. Es ist dort, wo das Dunkle im Selbst plötzlich zum fluoreszierenden Regenbogen wird. Jenes Zimmer im Körper, dessen Tür keiner kennt, die nur durch Dichtung geöffnet werden kann, dann aber schwingen auch alle Fensterflügel auf und sprühende, spritzende Farben flitzen durch die inneren Gänge und Säle.

Es ist damit auch die Erhellung von Vorbewusstem gemeint, von noch nicht Gedachtem, aber Gefühltem, das mit einem Mal durch die Verse zu etwas wird, das tatsächlich existiert.

Das Zimmer im Haus des Bewusstseins mag bei der Lektüre von Schwarz auf weiß mehrmals seine Türen öffnen. Für Augenblicke wird es so groß, dass es über die Leserin hinausgeht und sie sich in ihm ver- liert, wenn sie es zulässt.“ Der ganze Text ist hier nachzulesen.

Roland Schappert: Du fällst mir leicht

Geht es Ihnen auch so, dass sie bei Möhre gar nicht mehr zuerst an das Gemüse sondern an die U-Bahn-Station in Berlin denken? Die Gedichte in Du fällst mir leicht von Roland Schappert jonglieren mit sprachlichen Versatzstücken und arrangieren sie neu. Sie sind der täglichen Aktualisierung von Sprache auf der Spur und loten den fließenden Bereich zwischen der Freiheit der Rede / Freedom to speak und dem sorgfältigen Abwägen von Sprache, die immer auch Machtkonstellationen ausdrückt.

Am 2. Oktober 2020 diskutieren Roland Schappert und Ilka Helmig mit NRW-Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen und dem Vorsitzenden des Kulturrates NRW, Gerhart Baum über Nach der Krise: Durchstarten!, im Künstlerverein Malkasten in Düsseldorf (18 Uhr). Die Buchpremiere findet am 14. Oktober im Kunstverein Essen statt (19 Uhr).

Roland Schappert: Du fällst mir leicht. Gedichte, 78 Seiten, Preis: 12,- € – ist ab sofort lieferbar

Roland Schappert, der flackerndes Licht in Köln erblickte, ahnt lange nichts von Kunst und Fragen der Identität. Mehrdeutigkeiten und Unmöglichkeiten der Sprache, die er selbst nie erreicht, die interessieren ihn schon. Widersprüche nicht unbedingt als Vertrauensverlust zu werten und dabei weder in Lähmung noch Gleichschaltung zu verfallen, wäre doch ein Leben wert.

Die immense Wut dieser Sprache

„Beim Bachmannpreis hat die österreichische Autorin Lydia Haider für Verstörung und Ratlosigkeit gesorgt. Die Jury hätte gern genau gewusst: Wer spricht in ihrem Beitrag? Und gegen wen richtet sich die immense Wut dieser Sprache? Dass das immer neu zu verhandeln ist und nie restlos klar wird, gehört zu den Stärken von Haiders Texten, die sich nicht platt als Literatur gegen rechts oder wen auch immer instrumentalisieren lassen“, schreibt Sebastian Fasthuber zu Wort des lebendigen Rottens im aktuellen Falter (30/2020). „Die besten Momente sind nicht die ganz wüsten, sondern die überraschenden. In ‚Gesang XXXVI‘ heißt es, in Anlehnung an Ludwig Hirsch, schön hinterfotzig: ‚Schenk dich doch selber deinem Papst in einem Packerl, / glaub mir, der Kleine wird sich freun.'“

Eine klare ästhetische Linie

„Gesänge zum Austreiben lautet der Untertitel des Buchs, aber wer wen austreibt, bleibt offen“, schreibt Jana Volkmann über Lydia Haiders Wort des lebendigen Rottens im aktuellen Freitag und stellt stellt Zusammenhänge zum Bachmann-Wettbewerb und den Texten von Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard und Nora Gomringer her. Und weiter: „Auch, wer adressiert wird. Ein ‚du‘ gibt es, in der Regel wird es beschimpft: ‚du Haufen Faschiertes auf zwei Beinen‘, ‚du Nachbeter‘, ‚du fade Sau‘. Dass die Bezüge mitunter schwer herzustellen sind, ist keiner dichterischen Unsauberkeit geschuldet. Lydia Haider setzt sich in ihrem Werk intensiv und kritisch mit der Sprache selbst auseinander. Ihre Texte klingen roh und unmittelbar performativ, und der heilige Ernst dieser Sprache wird mit verschiedenen Slangs, Jargons und dialektalen Einsprengseln kontrastiert. ‚Die Schrift hat gesprochen, Ende Gelände‘, heißt es in einem der Gesänge. Das poetologische Konzept dahinter ist wohldurchdacht, von ihrem ersten Buch bis zum jetzt erschienenen Lyrikband zeichnet sich eine klare ästhetische Linie ab.

Cover Haider

Lydia Haider: Wort des lebendigen Rottens

Lydia Haiders erster Lyrikband Wort des lebendigen Rottens setzt sich aus 88 ganz unterschiedlichen Gesängen zusammen. Die Frage „Wer spricht?“ muss für jeden Text neu verhandelt werden – obwohl unerheblich für deren Aussage, denn ob Prediger_in oder das Volk selbst, ob ein „wahrer Gott“ spricht oder doch der Antichrist, macht’s Kraut nicht mehr fett. Es ist bereits fett. Ein Spiegel unseres Seins? 

Haider nimmt die Sprache von Handelnden, Machern, Mächtigen, Tätern und gießt sie über uns aus als einen Wortschwall. Sie zerbröselt die Sätze, die Strukturen, knetet und walkt alles durch, bis sich diese Sprache mit aller Macht gegen die Sprechenden wendet – was oft ein großer böser Spaß ist und manchmal tödlich endet.

Einige Gesänge sind auch vertont – die Musikkapelle gebenedeit hat Texte aufgegriffen und wird sie an Allerheiligen 2020 über ihr Album Missgeburt (Macht eine Messe!) der Weltlichkeit zugänglich machen.

Bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur, dem Bachmann-Wettbewerb, wird man Lydia Haider erleben dürfen. Sie nimmt dort auf Einladung von Nora Gomringer teil. Der Wettbewerb findet heuer vom 17.-21. Juni 2020 statt.

Cover Haider

Lydia Haider: Wort des lebendigen Rottens. Gesänge zum Austreiben, 40 Seiten, Preis: 10,- € – ist ab sofort lieferbar (Als Sonderdruck kein Teil des Abos)

Lydia Haider, geb. 1985, Schriftstellerin, lebt in Wien. Auch: Chefpredigerin der Musikkapelle gebenedeit. Zuletzt erschienen: Und wie wir hassen!, Anthologie (als Herausgeberin) 2020; Am Ball. Wider erbliche Schwachsinnigkeit, Roman 2019; Wahrlich fuck you du Sau, bist du komplett zugeschissen in deinem Leib drin oder: Zehrung Reiser Rosi. Ein Gesang 2018.