Die zurückgezogene Zunge

„Die Wochen 1995/6 über Winter in Russland, zur Zeit Jelzins, werde ich nie vergessen. Als ich am Ende wieder in die Cafeteria des Frankfurter Flughafens kam, sah ich Deutschland so ruhig, so leer, so langsam wie in einem Altersheim. Schlafen. Alles ohne Hintergrund, ohne Geheimnis, ohne Gefahr. Schon die Ankunft in St. Petersburg hatte etwas Mythisches für mich. Ein bisschen ängstlich steuerte ich auf die Passkontrolle zu, diese fest vor Augen. Doch dann brüllte markerschütternd ein athletisch hüpfender Soldat ‚Stoi!‘ und ich schaute nach unten, wo genau da ich im Begriff war, eine fette weiße Markierung zu überschreiten. Zackig kam er auf mich zu, und ich musste diese halbe Fußlänge zurück, damit meine Füße nicht das Symbol betraten. Zufrieden flackerten seine Augen. Nicht weiter der Rede wert. Doch eigentlich ein Entgegenkommen den Westlichen gegenüber, denn normalerweise – in Russland selber – muss man stets alleine durch nicht funktionierende Drehgewinde oder klemmende Sicherheitstüren. Und schuftet sich ab“, so beginnt die Besprechung des Handwörterbuchs der russischen Seele von Alexander Estis durch Kristian Kühn im Signaturen-Magazin. Einträge des Buches kommentiert er mit persönlichen Erlebnissen und Kommentaren. „Sehr schön, aber zum Teil ein Ausweichen ins Allgemeine, Märchenhafte, immer, oder fast immer dann mit einem inneren Lachen des ‚Wissenden‘, als ob er sich frei und sicher fühlen könnte – ohne Zugriff der Autokratie, ohne Zugriff einer fremden geistigen Macht. Fast schon auch ohne Zugriff auf sich selbst, mit Abstand gegenüber dem eigenen Wissen. Ein Zauber liegt insgesamt über den Einträgen, dieser zwischen Verharmlosung und Seitenhieben, zwischen Verständnis, Witz und ganz viel Menschlichkeit. Von sich selbst, in Moskau geboren, sagt Estis, er stünde zwischen allen Stühlen: ‚In der Schweiz ein Deutscher, in Deutschland ein Russe, in Rußland ein Jude.‘ Ein Muss für jene, die es zurzeit nicht allein mit der Angst zu tun bekommen, sondern auch wissen wollen, warum. Warum zum Beispiel die Deutschen von einer höheren Form der Wahrheit nichts wissen wollen. Aber das ist ein anderes Thema.“

Aus der heimlichen Welthauptstadt der Kurzgeschichte

„Die titelgebende Geschichte erzählt von Günter, einem Philosophen, der vielleicht ein Werk hinterlassen hätte, wenn es einen Namen dazu gäbe, aber nicht einmal die Authentizität des Vornamens Günter ist gesichert, so bleiben in den Bibliotheken nur die Werke und Namen der anderen Philosophen, deren Rekonstruktion sich Günter letztlich Zeit seines philosophischen Lebens gewidmet hat. Von Heraklit bis Sartre verdanken diese Denker letztlich allesamt ihre Existenz dem unermüdlichen Bemühen eines nicht benannten Unbekannten, dem provisorisch der Name Günter zugeordnet wurde und wird. Günter ist letztlich die Bedingung der Möglichkeit Hegels und Heideggers, deren Ruhm vom seinem Nichtruhm, dem des Unbekannten, begründet ist. Zumindest könnte so die Auslegung dieser Ebene der Erzählung lauten“, schreibt Jan Kuhlbrodt über Die Dädalus-Hypothese von Lew Naumow auf piqd.de.

Und weiter: „Aber eine Erzählung ist vor allem auch Sprache. Der Dresdner Fachübersetzer Dirk Bretschneider hat Lew Naumows Erzählungen ins Deutsche gebracht, und man merkt seiner Übersetzung an, dass er in der Tradition der russischen Kurzgeschichte hervorragend bewandert ist. Und was ist das für eine Tradition!! Puschkin, Leskow und so weiter. Tschechow. Man könnte einen nicht endenwollenden Schwanz großer Namen an dem schwarzen Hündchen befestigen. Im 20. Jahrhundert differenziert sich das ganze noch aus. Die heimliche Welthauptstadt der Kurzgeschichte ist meiner Ansicht nach ohnehin St. Petersburg. „

Steine sammeln, auch Hypothesen

Unter dem Titel Steine sammeln, auch Hypothesen stellen wir am 24. April in Sankt Petersburg im Programm café D des Goethe-Instituts zur Deutschen Woche die beiden Bücher Под камнями von Thomas Podhostnik und Die Dädalus-Hypothese und andere, nicht ganz abwegige Vermutungen von Lew Naumow vor und sprechen über unser russisches Jahr. Die Lesung, an der auch die Übersetzer Alexander Kabisow und Dirk Bretschneider sowie Adrian Kasnitz teilnehmen, wird moderiert von Anastasia Patsey vom Museum für nonkonformistische Kunst. Die Lesung findet in Präsenz im Amphitheater des Kongresszentrums Lenpoligrafmasch (Аптекарский пр., д. 4, корп. 2 / Aptekarski Pr. 4, Gebäude 2) um 17 Uhr Ortszeit (16 Uhr Kölner/Leipziger Zeit) statt. Einige Teilnehmer sind online zugeschaltet.

Dem Live-Stream kann man übrigens hier folgen:

Томас Подхостник: Под камнями

Als Bestandteil unseres russischen Jahres erscheint jetzt die Erzählung Unter Steinen von Thomas Podhostnik in der russischen Ausgabe, die Alexander Kabisow aus dem Deutschen übertragen hat. Под камнями wird am 24. April in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Sankt Petersburg (mit Lew Naumow, Thomas Podhostnik, Dirk Bretschneider, Alexander Kabisow, Adrian Kasnitz u.a.) im Rahmen der Deutschen Woche präsentiert.

Томас Подхостник: Под камнями. Проза. Илюстрации Йоханны Риттер. Перевод с немецкого: Александра Кабисова, 42 ст., 10,- €

Lew Naumow: Die Dädalus-Hypothese

Sankt Petersburg war vielleicht schon immer die weltoffenste aller europäischen Großstädte. Keine Gedankenströmung und kein ästhetisches Prinzip, das dort nicht seine Spuren hinterlassen hätte. Sankt Petersburg ist ein Palimpsest. Wer dort an einer Hauswand kratzt, der findet unter einem Filmplakat von Tarkowski möglicherweise ein Zitat von Seneca. Lew Naumows Erzählungen sind das Ergebnis solcherlei Ausgrabungen. Naumow erfindet und findet die Welt in Sankt Petersburg.

Der Band Die Dädalus-Hypothese und andere, nicht ganz abwegige Vermutungen versammelt acht Erzählungen von Lew Naumow, die der Dresdner Übersetzer Dirk Bretschneider ins Deutsche übertragen hat. Sie handeln von Personen, die sich ihren Gedanken, Fähigkeiten und Welten ganz ergeben, von seltsamen auch außeriridschen Orten und Botschaften für eine spätere Zeit. Er erscheint in unserer neuen Reihe für erzählende Prosa aus Europa: PLÜ. Gleichzeitig ist der Band Teil unseres russischen Jahres und wird am 24. April im Goethe-Institut Sankt Petersburg (mit Lew Naumow, Thomas Podhostnik, Dirk Bretschneider u.a.) präsentiert.

„Ich glaube, der Gedanke, Theaterregisseur zu werden, war die allererste Idee, die mir in den Kopf kam…“ Hand aufs Herz, das ist natürlich gelogen. Es ist schlichtweg unmöglich. Aber wie das klingt! Gern sähe ich es, wenn ein zukünftiger Biograf meine Geschichte mit eben diesen Worten beginnen würde und darum werde ich nicht müde, sie wieder und wieder auszusprechen. Bislang wiederhole ich mein Mantra nur insgeheim für mich und doch hoffe ich, dass sich irgendwann einmal die Gelegenheit ergibt, den Satz laut und weithin hörbar vorzubringen, nach einer triumphalen Aufführung im „Palais-Royal“, im „dell’Angelo“ oder im „Comunale“, auf der Bühne des Royal Theatre oder im „Old Vic“…

Lew Naumow: Die Dädalus-Hypothese und andere, nicht ganz abwegige Vermutungen. Erzählungen aus dem Russischen von Dirk Bretschneider (PLÜ 001), 116 Seiten, Preis: 14,- € – ist ab sofort lieferbar

(Hinweis für Abonnent*innen: die Reihe PLÜ ist nur Bestandteil des Prosa-Abos.)

Lew Naumow, geb. 1982 in Leningrad, ist ein russischer Schriftsteller, Theaterautor, Essayist und Kulturwissen- schaftler. Seine Arbeit wurde mit russischen und internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet. Seine Texte wurden neben dem Deutschen auch ins Chinesische und Türkische übersetzt, seine Stücke an russischen und deut- schen Theatern inszeniert. Die Erzählungen des Bandes sind seinen beiden Büchern Гипотеза Дедала (Die Dädalus-Hypothese) und Шёпот забытых букв (Das Flüstern der vergessenen Buchstaben) entnommen. Wissenschaftlich beschäftigt er sich mit den künstlerischen Arbeiten von Andrei Tarkowski, Samuel Beckett, Alexander Kaidanowski, Terry Gilliam, Christopher Nolan, Sergei Paradschanow und anderen. Über den Dichter Alexander Baschlatschow schrieb er eine Biographie. Außerdem hält Naumow kulturwissenschaftliche Vorträge über Theorie und Praxis von Literatur und Kino.

Dirk Bretschneider, Jahrgang 1972, lebt in Dresden. Als gelernter Fachübersetzer überträgt er gelegentlich auch Belletristisches ins Deutsche.