Ein Schelmenroman im Metalhead-Milieu

In einer Besprechnung neuer lettischer Literatur in der FAZ (vom 09.02.23) schreibt Jan Brachmann über Jelgava 94 von Jānis Joņevs: „Man kann sich keinen größeren Kontrast dazu vorstellen als den Jugendroman Jelgava 94 (…), der 2013 entstand und jetzt bei der Kölner Parasitenpresse in der (…) pointierten wie herzerwärmenden Übersetzung von Bettina Bergmann auf Deutsch herausgekommen ist. er erzählt vom Leben in der lettischen Provinz drei Jahre nach der wiedererlangten Unabhängigkeit von der Sowjetunion aus der Sicht eines halbwüchsigen Schülers, der zur Zeit des Freiheitskampfes seiner Eltern noch zu klein gewesen war, um die große Wirklichkeit zu begreifen, und jetzt mit Bandenkriminalität, Drogenhandel und Metal-Szene einer Welt ausgesetzt ist, die auch seine Eltern überfordert. Auf das ‚auch‘ kommt es an, denn der Ich-Erzähler selbst stolpert ziemlich unbeholfen durchs Leben und sieht sich – aus dem schreiberischen Abstand von fast zwanzig Jahren – mit gutmütiger Selbstironie dabei zu. Es fallen großartige Sätze wie: ‚Ich mochte ja alte Musik jeder Art ausgesprochen gern. Zum Beispiel die Beatles.‘ Und die Einführung des neuen Fachs Sexualkunde in einer sowjetisch geprägten, völlig unterleibsverklemmten Schule ist von tränentreibender Komik. Man könnte Jelgava 94 einen Schelmenroman nennen, nur ist nicht der schüchterne, dünnhäutige Held in seiner Hilflosigkeit der Schelm, sondern der Autor, der aus diesem Helden erwuchs.“

Und zu unserem verlegerischen Tun schreibt Brachmann an anderer Stelle: „Dass in letzter Zeit gleich mehrere Verlage lettische Bücher ins Deutsche übersetzen ließen, zeugt von sympathischem Mut und aufrichtigem Interesse am Baltikum.“

P.S. (24.02.23): Den ganzen Beitrag gibt es jetzt auch online.

Jānis Joņevs: Jelgava 94

Jelgava 94 ist der Kultroman aus Lettland. Es ist eine witzige Coming-of-Age-Geschichte eines Jungen, der in Jelgava – einer Stadt in der lettischen Provinz – aufwächst, erst Nirvana, dann die Metal-Szene für sich entdeckt und neue Freundschaften schließt. Es ist aber auch ein fast dokumentarisches Portrait des Lebens im post-sowjetischen Lettland der 1990er Jahre, das Portrait einer Generation, die auf der Suche nach ihrer eigenen Identität ist und Teil einer Jugendkultur sein möchte.

Jānis Joņevs entführt den Leser in eine skurrile Welt: in die Provinz, die den Aufbruch spürt, zu den Jugendlichen, die auf die großen Ereignisse in ihrem Leben warten, in die aufgelassenen Bunker, in denen Konzerte stattfinden, und zu den versteckten Tauschbörsen für Musik-Kassetten. Er erzählt als Beobachter, der mitten drin im Geschehen steckt, aber dann auch den Abstand gewinnt, um mit einem Hauch Nostalgie auf die Ereignisse und die Zeit zurückzublicken. 

Als Joņevs‘ Debütroman 2014 in Lettland erschien, erwies sich das Buch schnell als großer Erfolg und nationaler Bestseller. Mittlerweile wurde er in mehrere Sprachen, u.a. ins Englische, Französische und Spanische, übersetzt. Die Übersetzung ins Deutsche besorgte Bettina Bergmann. 2014 erhielt Joņevs den Literaturpreis der Europäischen Union für Jelgava 94.

Jānis Joņevs: Jelgava 94. Roman aus dem Lettischen von Bettina Bergmann, 330 Seiten, Preis: 18,- € (Reihe PLÜ) – ab sofort lieferbar

Jānis Joņevs, geb. 1980 in Jelgava, studierte Kulturwissenschaften in Riga. Er arbeitet als Texter, Schriftsteller und Journalist und übersetzt aus dem Französischen, u.a. Ágota Kristóf. Jelgava 94 ist sein erster Roman. 2014 erhielt er dafür den Literaturpreis der Europäischen Union sowie den lettischen Kulturpreis. 2019 wurde der Roman fürs Kino verfilmt. 2020 erschien der Erzählungsband Tīģeris.

Bettina Bergmann ist Literaturwissenschaftlerin, Lektorin und Übersetzerin. Sie studierte Baltistik und Germanistik in Greifswald und Riga. Heute lebt sie in Dortmund.