About a girl im Streifenwagen

„Ein Jugendlicher läuft in der lettischen Kleinstadt Jelgava mit einem Stapel Bibliotheksbücher nach Hause und trifft auf ein paar Schulhofschläger. Bevor die Situation eskaliert, spüren einige von ihnen irgendwie irgendetwas. Auf der anderen Seite des Ozeans hat sich genau in diesem Moment Kurt Cobain erschossen. Der Nerd mit den Büchern und die Prolls werden Freunde. Sie hören Grunge, treffen sich im Gebüsch und klettern auf Dächer, um nicht beim Rauchen erwischt zu werden. Es braucht mehrere tapsige Versuche, um einen Alkoholrausch zu erleben, der Erwerb von Drogen misslingt. Neben der Rebellion gegen geliebte Eltern und nette Lehrerinnen und dem Bruch mit zu braven Schulfreunden gibt es die Hoffnung auf eine andere Welt und das große Ding, das bald alles verändern wird. Aber es ist nicht viel los in Jelgava. Mit Mädchen klappt es auch nicht so richtig. Als die Songs von Nirvana auf dem Kleinstadtmarkt aus jeder Verkaufsbude schallen und sogar im Radio eines Streifenwagens ‚About a Girl‘ läuft, wird es Zeit, sich eine neue Jugendkultur zu suchen: ‚Ein bisschen Thrash, ein bisschen Doom, aber vor allem Death Metal.‘ Die begehrten Alben müssen als Raubkopie auf Kassette bei der ‚Börse‘ im Wald von Biķernieki in Riga besorgt werden. Auch Band-T-Shirts sind eine Rarität, sie lassen sich mit viel Glück vielleicht mal in den Haufen der Altkleidersammlung finden. Die Mutter bringt trotz detaillierter Anweisungen leider nur Merchandise von Michael Jackson nach Hause. Kutte und Haare, die langsam wachsen und freitags im Club ‚Krāmene‘ durch die Luft fliegen, müssen als Outfit reichen. Was wie eine gewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte klingt, ist ein großer Lesespaß. Naivität und Unsicherheit führen in Jānis Joņevs Roman Jelgava 94 zu komischen Situationen und phantastischen Gedankengängen. Der Ich-Erzähler blickt mit viel Selbstironie und Reflexion auf seine subkulturelle Vergangenheit im gerade unabhängig gewordenen Lettland zurück“, schreibt Christine Pfeifer über Jelgava 94 von Jānis Joņevs in der Jungle World (35/2022).

Im Hinterhof der Westentasche

„(…) Jelgava 94 beginnt wie Die fabelhafte Welt der Amelie mit dem tragischen Tod einer Berühmtheit. Als Kurt Cobain (‚Kurt So-und-So‘) sich am 5. April 1994 das Leben nimmt, wird Nirvana zum Pop-Phänomen, der Sänger zur Märtyrerfigur – zum Sinnbild von Widerspruch und Ablehnung der vorhergehenden Generation gegenüber. Für den Protagonisten Janis beginnt damit das Erwachsenwerden und eine Geschichte darüber, wie aus den einstigen ‚Lehrerlieblingen‘, diejenigen werden, die sich selbst befreien wollen und die ‚die Erfolgreichen verachteten und die Schlechten bewunderten‘.

Jānis Joņevs beschreibt in seinem, in 9 Sprachen übersetzten und mit dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichneten Roman, die jugendliche Selbstfindungsphase im postsowjetischen Lettland, den Unsicherheiten der Freisetzung und das Wiederfinden in einer neuen Musikkultur. Das Interesse für eine Szene und die Gleichgesinnten darin beginnt bei Janis – dem Protagonisten – genau so aufzuheulen, wie das Interesse an Bier und Kippen“, schreibt Alexander Rudolfi in der wunderbaren Rezension bei wereadindie.

„Bald sind es nicht mehr nur Nirvana, sondern Pearl Jam, Sonic Youth und Temple of the Dog, die den 13-jährigen prägen, wie Don Quixote seine Bücher geprägt haben. Mit immer mehr Wissen und Namen im Gepäck, wird er im Rahmen seiner Kollegen und Freunde immer cooler, bis zum Punkt, an dem alle diese Bands im Pop aufgehen, zur etablierten, zur Pop- Kultur werden und dem Protagonisten auf ebenso gewaltsame, wie vorhersehbare Art, seine eben noch konsumierbare Gegenkultur nehmen; die notwendige Tragik einer Jugend im Kulturkapitalismus:

‚Unsere Musik erschallte sogar aus den Autos unserer Feinde.‘

Trash, Doom, Death und so weiter

Mit dem Kapitel wechseln die Namen, wechseln die Register und werden in der Eigendynamik des Widerspruchs immer wilder. Janis und seine Freunde hören death, my dying bride, cannibal corpse oder anal cunt, sie trinken Whiskey und feiern den Mond. Janis findet Freunde, mit gleichem und welche mit anderem Musikgeschmack und die fordern seine Loyalität und eine Entscheidung darüber heraus, wer der Feind ist. Überall lauern die Gopniks und Gangster, aber auch da sind nicht alle gleich. Lektion um Lektion lernt man den Janis immer besser kennen, der von einer vagen Gegenwart aus über die Selbstwerdung erzählt.

Man hat es ebensosehr mit einem klassischen Coming-of-age Roman zu tun, wie man auch einem Schelmen folgt, der sich verändert, obwohl er das gar nicht dürfte. Der Autor geht mit Ironie dem Thema nach, wie ein junger Mensch in den 90ern durch Popkultur sozialisiert wurde und zeichnet die feinen Bezugslinien und Ideale nach, die sich innerhalb einer Jugendkultur bilden, in deren Zentrum die Musik steht – welche auch immer das ist. Wir fühlen mit ihm die Sehnsucht nach den Orten einer Szene, nach legendären geheimen Treffpunkten im Wald, in dem auf Kassetten überspielte Alben ausgetauscht werden und nach Clubs in leerstehenden Häusern.

Die Zeitspanne der drei, vier Jahre die Janis Jonevs in seinem Roman beschreibt, sind dabei rasant erzählt und mit dem feinen Formbewusstsein für Sprache ausgestattet, die sich je nach Alter und gemachten Erfahrungen entwickelt: die Unsicherheit der rhethorischen Selbstbefragung vom Anfang wird weniger und es ist, als würde man wirklich dem jungen Don zusehen und zuhören, wie er langsam, aber sicher in seine Rolle hineinwächst und sich immer härtere und unpopulärere Stile erschließt; wie er in Schlägereien und Trance-Zustände gerät und natürlich immer eine Band gründen will, die alles was bereits da ist revolutioniert. Und so anschaulich das beschrieben ist, liest sich jedes Kapitel auch immer als Metapher auf ein Leben im Postkommunismus, irgendwo in der hinteren Tasche Europas, die durch die sehr gelungene Übersetzung immer ganz nah wirkt, immer zeitgemäß und dem Milieu angemessen:

‚Mayhem haben krasse Soli‘

(…)

Buntes Buch mit schwarzem Cover

Jelgava 94 ist ein literarisch selbstbewusster, spaßiger und rasanter Roman für alle, die ihre Musikbegeisterung durch die Krisen der Jugendjahre gerettet hat.

Es hätte auch ein bunteres Cover für diesen bunten Roman geben können, der mit einigem Humor die Lust und den Schrecken einer Generation beschreibt, die erlebte, wie sich Musik von ihren körperlichen Trägern befreit und in einem Plattformkapitalismus reintegriert hat, in dem Algorithmen eine Vorauswahl treffen und die Sehnsuchtsorte als Orte nicht länger existieren.“

Jetzt schon ein Klassiker

„Jelgava ist eine 60.000-Seelen-Stadt, keine 50 Kilometer von Riga entfernt. Am 5. April 1994 wählte einer den Freitod, der in den Jahren, die dann doch nicht das Ende der Geschichte markierten, mit unerhörtem Krach zum Idol Millionen Jugendlicher geworden war: Nirvanas Kurt Cobain. Lettland war da fast vier Jahre unabhängig. Im endlich ins Deutsche übersetzten Kultroman Jelgava 94 (Parasitenpresse, 18 Euro) erzählt der 1980 geborene Jānis Joņevs von postsowjetischer Provinz und Jungs, die sich, so wie das Land, in dem sie erwachsen werden, noch finden müssen: von Metal, Mädchen, Suff und Bandshirts aus dem Humana-Laden. Jetzt schon ein Klassiker“, schreibt Mladen Gladić in der Welt am Sonntag (29.5.22).

Dieses Buch ist ein Zwitter

„Was ist das für ein Buch und was hat es mit seinem eigentümlichen Titel auf sich? final image, der neue […] Band des Erfurter Dichters Mario Osterland, kommentiert, lyrisch einfühlsam, letzte Bilder von Persönlichkeiten der Pop-Kultur. Ist es also ein Gedichtband, zu dem der Geraer Künstler Alexander Neugebauer Tuschezeichnungen nach Fotografien etwa von Franz Kafka, Marlene Dietrich oder Kurt Cobain beigesteuert hat? Oder ist es eher ein Katalog mit poetischem Begleittext zur aktuellen Ausstellung in der Jenaer Villa Rosenthal?“, fragt Patrick Wilden in einer Besprechung des Bandes bei Fixpoetry. „‚Ein Album‘ lautet der Untertitel des schmalen Bändchens, und so lässt sich immerhin sagen: dieses Buch ist ein Zwitter – und zugleich ein Gang durch 170 Jahre Fotografiegeschichte.“

Cover Osterland final

Ausstellung final image

Über die heute in Jena beginnende Ausstellung final image und das gleichnamige Buch von Mario Osterland und Alexander Neugebauer schreibt Ulrike Kern von der Ostthüringer Zeitung: „Alexander Neugebauer legt sich auf einen Stil fest und wählt dafür Tusche mit seinem tiefen Schwarz und den vielen feinen Untertönen. Fortan zeichnet der Künstler wunderschöne Bilder von Persönlichkeiten wie Paul Cézanne, Marlene Dietrich, Amy Winehouse, Kurt Cobain, Bob Marley. Es sind komprimierte, pointierte Zeichnungen, die markante Züge hervorheben und alles Unwesentliche ausklammern.

Ebenso arbeitet Mario Osterland mit seinen nebengestellten Texten, die meist eine halbe A4-Seite umfassen und als Zwischenform zwischen Lyrik und Prosa einzuordnen sind. Mal formuliert er in treffend-klarer Sprache eine klassische Bildinterpretation, mal sind es Anekdoten oder persönliche Assoziationen. So wird der Betrachter zum Zeugen im Augenblick des Unfalltodes, zunehmender Drogenabhängigkeit oder Magersucht eines sterbenden Stars gemacht. Es sind würdevolle Worte zu stilvollen Illustrationen. 30 Arbeiten haben die beiden in ihrem interdisziplinären Projekt zusammen geschaffen und in ihrem Buch vereint – 16 sind nun Teil der aktuellen Ausstellung in der Villa Rosenthal.“

Zu sehen ist final image vom 4. März bis 6. Mai in der Villa Rosenthal in Jena

Cover Osterland final

Audun Mortensen: Hatte Kurt Cobain eine E-Mail-Adresse?

Der norwegische Schriftsteller Audun Mortensen hat das Internet ausgedruckt. In Hatte Kurt Cobain eine E-Mail-Adresse? erfasst er 387 Ereignisse, die noch nie zuvor in der Belletristik beschrieben wurden: Beispiele und Gegenbeispiele dafür, wie man sich an die Menschheit erinnern wird, wenn sie nicht mehr existiert. Die Postings aus sozialen Medien, die Mortensen zu einem witzigen Gesamtbild arrangiert, hat die Kölner Übersetzerin Anna Pia Jordan-Bertinelli ins Deutsche übersetzt.

»Solche wie er hängen nur im Internet rum.« – Frode Grytten, norwegischer Schriftsteller (Dagens Næringsliv, 6.5.2016)

»Ich habe es noch nie geschafft, etwas von ihm zu Ende zu lesen.« – Marta Norheim, norwegische Kulturjournalistin und Literaturkritikerin (NRK Bok i P2, 11.9.2015).

Audun Mortensen: Hatte Kurt Cobain eine E-Mail-Adresse? Aus dem Norwegischen übersetzt von Anna Pia Jordan-Bertinelli, 82 S., Preis: 12,- € (paradosis Bd. 14) – ab sofort lieferbar

Cover Mortensen

Audun Mortensen, geb. 1985, wohnt in Oslo und hat 10 Bücher (Lyrik und Prosa) im norwegischen Flamme Verlag veröffentlicht. Vor Hatte Kurt Cobain eine E-Mail- Adresse? ist von ihm Žižek’s Jokes (Suhrkamp 2014) auf Deutsch erschienen. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit hat Mortensen künstlerische Werke in der V1 Galerie in Kopenhagen, in der Gagosian Galerie in New York, in der Futura Galerie in Prag und im Hordaland Kunstcenter in Bergen ausgestellt.

Anna Pia Jordan-Bertinelli, geb. 1991 in Aachen, studierte Germanistik und Skandinavistik in Tübingen und Köln. Vor und während des Studiums Auslandsaufenthalte in Asker, Oslo und Turin. Zurzeit lebt sie in Köln und übersetzt aus dem Norwegischen und Schwedischen.