„Mit seinem neuen Gedichtband Im Sommer hatte ich eine Umarmung präsentiert Adrian Kasnitz Lyrik, die sich mit den Unsicherheiten und Sinnfragen einer von Krisen gezeichneten Gesellschaft auseinandersetzt. Dies fließt zusammen mit Fragen nach Herkunft und Identität. Melancholie und Entwurzelung ziehen sich durch diese Gedichte, in denen sich der Verlust von Heimat sowie der Zusammenbruch von Lebenswelten und Gewissheiten andeuten. Innere und äußere Migration vermischen sich in den Texten, in denen das Subjekt zwischen Welten wandelt und doch nirgends ankommt: ‚wir spiegelten uns in den Glasschichten / unscharf, verschwommen / so wie unsere Identitäten sind'“, schreibt Sophie Modert in einer Besprechung des Bandes im Luxemburger Tageblatt und fügt der Lektüre einen weiteren Aspekt hinzu, nämlich den der Ästhetik des Unscheinbaren und Hässlichen.
„Im Sommer hatte ich eine Umarmung, der neue Gedichtband des Kölner Schriftstellers, schlägt einen ganz eigenen, lakonischen Tonfall an, hier und da einen mündlichen Sound, zieht die Kürze weit ausholender Bildlichkeit und dichterischer Pose vor. Es sind prägnante, visuelle, szenische Gedichte, viele ganz amerikanisch auf der Straße angesiedelt wie ‚Brixton‘ oder ‚Sie kamen direkt aus dem Doku-Kanal‘. Obst und soziale Medien, Wetter-Apps und Instagram wandern durch die Verse, und immer wieder liest man von Beziehungen und der Sehnsucht nach Intimität, die sich nicht einlösen lässt, denn ich will jetzt küssen / und du willst jetzt nicht. Ich will ins Meer springen / und du willst jetzt nicht. Träumte ich, dir aus Istanbul zu schreiben? demonstriert aber auch, wie kunstvoll gebaut die scheinbar beiläufigen Gedichte sind, wie genau kalkuliert ihre Zeilensprünge. Und manchmal gelingt das Zusammensein eben doch, wie im Jackentaschen-Gedicht: ‚In meiner Jackentasche steckt ein Park / in dem wir manchmal laufen / (…) wenn du deine Hand / in meine Jackentasche steckst‘, schreibt Paul Jennerjahn in einem wunderbaren Portrait über den Schriftsteller und Verleger Adrian Kasnitz und seinen neuen Gedichtband. In ganzer Länge kann man den Text nun in der aktuellen Ausgabe der Kölner StadtRevue (5/23) und auf der Homepage lesen.
Mit Im Sommer hatte ich eine Umarmung legt Adrian Kasnitz nach Glückliche Niederlagen (2016) endlich wieder einen größeren Gedichtband vor. Darin fragt er nach den menschlichen und zwischenmenschlichen Dingen, die sich in der krisenreichen Zeit (Klimakatastrophe, Pandemie, Krieg) verkompliziert und verschoben haben. Er versucht Distanzen zu überwinden und probiert Nähen aus. Vermischt sind die tastenden Bewegungen mit Fragen nach der Welt, in der wir leben (möchten), nach Macht und Herkunft: „Mein Vater arbeitete in vielen Fabriken / dieser Stadt. Nie blieb er lange und immer / hielt man ihn für einen Idioten.“
Politische Gedichte finden sich neben Gedichten zur Corona-Zeit und zu den Versuchen, wieder in eine Normalität zu finden:
Der Band wird am 13. März im Literaturklub (gemeinsam mit Mira Mann), am 16. März in Berlin (gemeinsam mit Alexander Rudolfi), am 24. März in Hannover (gemeinsam mit Wassiliki Knithaki, Sünje Lewejohann und Alexander Rudolfi), am 25. April in Halle (gemeinsam mit Olav Amende, Christian Kreis und Mira Mann) und am 28. April in Leipzig (bei Books & Beers) vorgestellt. Weitere Termine folgen.
Adrian Kasnitz: Im Sommer hatte ich eine Umarmung. Gedichte, 90 Seiten, Preis: 14,- € – ab sofort lieferbar
Adrian Kasnitz, an der Ostsee geboren, aufgewachsen in den westfälischen Bergen, Studium in Köln und Prag, lebt als Schriftsteller, Herausgeber und Veranstalter in Köln. Von ihm erschienen zuletzt die Gedichtbände Kalendarium #1 bis #8 (parasitenpresse 2015-2022) und Glückliche Niederlagen (Sprungturm 2016), der zweisprachige Prosaband Pierre Huyghe hired me (parasitenpresse 2019) sowie der Roman Bessermann (Launenweber 2017). 2020 wurde er mit dem Dieter-Wellershoff-Stipendium der Stadt Köln ausgezeichnet. Seit 2019 kuratiert er im Team das Europäische Literaturfestival Köln-Kalk (ELK).
Die Berliner Filmemacherin und Autorin Jelena Jeremejewa war zu Kriegsbeginn bei ihrer Familie in Kiew. In ihrem Tagebuch Seit September will ich nach Kiew berichtet sie von den ersten Tagen des Krieges, von ihrer Flucht und den Gedanken und Ängsten, die sie, ihre Familie und ihre Freunde haben. Sie weiß von den unterschiedlichen Perspektiven, mit denen Deutsche und Ukrainer auf das Kriegsgeschehen sehen, und versucht, die ukrainische Sichtweise zu vermitteln. Das Tagebuch umfasst den Zeitraum von Mitte Februar bis Anfang Mai.
Auszug: „16.2. Seit September will ich nach Kiew. Zu meinem Vater und meinen Freunden. Dauernd hinderte mich etwas. Abgaben, Herbstferien, Beziehungsarbeit und Sorgearbeit, einfach Arbeit, deutsche Weihnachten, Silvester, mein 40. Geburtstag, zuletzt Omikron. Am 16. Februar bin ich endlich soweit. Endlich nach Hause. Im vollen Flieger bedrückte Stimmung, deutsche Journalisten, die noch zu lachen haben und sich über überaus leckeres und unbeschreiblich günstiges Sushi in Kiew austauschen. Mein Bruder holt mich am Flughafen ab, ich atme die vertraute Februar Luft, frisch und voller Abgase, die Sprache umhüllt mich und wiegt mich in Sicherheit. Menschen freuen sich auf ihre Freunde und Angehörigen, die sie in Empfang nehmen, Blumen, Namensschilder, Taxirufe. Alles steht, alles fährt, Stau, bis wir über den Dnjepr sind – alles noch da, alles wie immer. Herkunft.“
Die Autorin wird das Buch erstmals beim Europäischen Literaturfestival in Köln (2.-4. September) vorstellen. Eine englischsprachige Ausgabe ist in Vorbereitung.
Jelena Jeremejewa: Seit September will ich nach Kiew. Ukraine-Tagebuch, 68 Seiten, Preis: 12,- € (Reihe paradosis)
Jelena Jeremejewa ist eine Künstlerin, Autorin und Regisseurin für Dokumentarfilm. In ihren Filmen „Der Ernst des Lebens“ (SWR) und „Irgendwo dazwischen“ (WDR) thematisierte sie Fragen der systemischen Bildungsungerechtigkeit und Chancenungleichheit unter Jugendlichen mit Migrationserfahrung. Ihre Arbeitsfelder sind mit ihrer Herkunftsgeschichte verbunden – heute führt sie in Kooperation mit verschiedenen Trägern Filmworkshops an Schulen durch, die die Kinder neben Antisemitismus und Rassismus auch für die radikale Vielfalt sensibilisieren sollen.
Zuletzt publizierte sie zu divergierenden Erinnerungsnarrativen innerhalb der heterogenen jüdischen Gemeinschaft in „Neues Judentum – altes Erinnern?“ Aktuelle Arbeiten bewegen sich an der Schnittstelle zwischen Forschung und Kunst und thematisieren die Fragen der Wirkungsmacht von kontrafaktischen historischen Narrativen innerhalb von postsozialistischen Kulturen Osteuropas.
Ihre Promotion an der Bauhaus-Universität Weimar über die Unsichtbarkeit des Traumas als Individual- und Kollektiverfahrung im russischen Dokumentarfilm der 90er – 2000er Jahre hat sie 2019 abgeschlossen. Sie lehrt dokumentarische Filmpraxis an der Bauhaus Universität Weimar und an der Hochschule Darmstadt.
„Plätze, zu denen sich poetisch Schreibende hingezogen fühlen, sind mindestens so vielfältig wie ebendiese literarischen Personen, denen sie zuzuordnen wären, und vielleicht ist sich auch nicht jede davon überhaupt darüber im Klaren, wo ihr ureigener Platz zu suchen respektive zu finden sei: Ist es der Ort der Kontemplation, der Ort der Begegnung mit anderen, mit Ideen oder der Geschichte, eine Form von Heimat, sei sie aufgrund von Herkunft determiniert oder von einer erfolgreichen Suche nach ihr aufgefunden? Oder können diese Orte nicht sogar viele sein, den Imponderabilien des Geschicks geschuldet, eine im Vorhinein nicht vorhersagbare Anzahl von Würfelaugen? Patrick WildensSchreibers Ortgibt auf diese Fragen mehrere Antworten“, schreibt Marcus Neuert bei literaturkritik.de. Und weiter: „So erlebt Patrick Wildens Lesegemeinde in Schreibers Ort literarisierte Ankünfte jenseits der Zeit. Denn dazu sind diese Gedichte von einer unprätentiösen, zeitlosen Schönheit, die sich auch in den verschiedenen Vers- und Strophenformen widerspiegelt, von freien, prosanahen Textblöcken wie in Klemmton über vielgestaltig freirhythmische und in unterschiedlichste Strophenkombinationen gegossene Verse bis hin zu einer fast formstrengen Sestine im titelgebenden Gedicht des Zyklus‘ Stadt Land Kuss. In dieser Überzeitlichkeit findet zudem auch beinahe wie von selbst eine Versöhnung der Nachmoderne mit dem Überlieferten statt.“
Was passiert mit uns, wenn wir unterwegs sind, was setzt es frei? Und was, wenn wir fremd sind? Worin gründen Wurzeln? wenn ich asche bin, lerne ich kanji von Kathrin Niemela beschäftigt sich in fünf Kapiteln mit dem Reisen und dem Fremdsein: in der Liebe, in Paris, in der Welt, im Leben und Sterben, in der Herkunft. Es erzählt von (Ab)Gründen und Höhenflügen, vom Suchen und Ausgesetztsein, vom Großen im Kleinen und vom Kleinen im Großen, von Momenten der Betörung, Verstörung, Zerstörung und der Einsamkeit, der digitalen Getriebenheit, der Suche nach Liebe und dem Scheitern.
Kathrin Niemela ist eine vielreisende Lyrikerin. Schlägt man ihren Debütband auf, wird man nicht nur nach Südamerika und Asien geschickt, um die Dichterin bei ihren oft gesellschaftskritischen Beobachtungen zu begleiten, sondern auch in die Bilderwelt einer Autorin, deren poetische Wortschöpfungen durchaus auch für Semiotik- und Archetypenforscher interessant sein könnten. Der den Bandtitel gebende Satz „wenn ich asche bin, lerne ich kanji“ stammt aus dem Gedicht bad in shibuya, das geradezu ein Paradebeispiel für Niemelas Schreiben ist: urbane, vor Werbung für Weltmarken überbordende Welten prallen mit Menschenmassen und Anonymität zusammen, und mittendrin das lyrische Ich, das das Mysterium unseres Daseins nicht nur beschreiben, sondern auch verstehen will. Niemela schreibt im besagten Gedicht aus Japan: „(…) ich bin kein roboter, / wähle alle bilder mit brücken – hantle mich an mangas / entlang, acht stunden neben der zeit – das waka bricht / silben in splitter – ich schneide mich am sein“.
Kathrin Niemela liest am 14. Oktober bei Literatur im Lindley, am 21. Oktober bei der Parasites‘ Night und am 22. Oktober bei unserer Buchmessen-Lesung im Yok Yok, alles in Frankfurt.
Kathrin Niemela: wenn ich asche bin, lerne ich kanji. Gedichte, mit einem Nachwort von Artur Becker, 88 Seiten. Preis: 12,- € – ab sofort lieferbar
Kathrin Niemela, geboren 1973 in Regensburg, lebt in Passau und Regensburg und ist unterwegs als Lyrikerin und Markenbotschafterin. Sie studierte Betriebswirtschaft in Regensburg und Paris. Bisher erschienen ihre Gedichte in Anthologien und Literaturzeitschriften. wenn ich asche bin, lerne ich kanji ist ihr erster Lyrikband. Zuletzt ist sie mit dem Jurypreis beim Irseer Pegasus für den im Band enthaltenen Zyklus die süße unterm marmeladenschimmel ausgezeichnet worden.
In der aktuellen Ausgabe (Nr. 28) von Der Maulkorb – Blätter für Literatur und Kunst findet sich ein ausführliches Interview mit dem Schriftsteller Thomas Podhostnik über Arbeit und Schreiben, literarische Vorbilder, Herkunft und Milieu, über den Bodensee, Leipzig, Kuba, Slowenien und Jugoslawien. Das Interview führte Katharina Simon.
Adrian Kasnitz erhält eins der beiden Dieter-Wellershoff-Stipendien des Literaturhauses Köln für das Jahr 2020. Gefördert wird damit die Arbeit am dritten Roman mit dem Arbeitstitel Der Schatten. Die Jury begründete so ihre Entscheidung: „Als der Vater im Sterben liegt, wird der Erzähler mit einer Zeit und Welt konfrontiert, die er gründlich hinter sich gelassen zu haben wähnte: das mühevolle Aufwachsen auf einem abgelegenen Hof in Masuren, die ersten Schritte in ein anderes, eigenes Leben am Rand einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen, die zunehmend konfliktbehaftete Beziehung zu seiner Familie. Adrian Kasnitz‘ Text erzählt von der Bedeutung der Herkunft, von Abschied und Aufbruch, Fremdsein und Identität – voll spannungsvoller Ruhe, sinnlicher Intensität und zarter Archaik.“
Mit Schwarz auf weiß, dem neuen Gedichtband der nordmazedonischen Dichterin Lidija Dimkovska, setzen wir unsere Reihe mit internationaler Poesie fort. „Die Zeit überrollte dich in dem Augenblick, als du aufbrachst“, heißt es in ihrem Gedicht Reise. Der Aufbruch in ihren Texten ist oft aus der Not geboren, dem Krieg. Die Verheerungen sind noch überall zu spüren, die Ruinen der Häuser und Menschen. Die Menschenrechte eignen sich zum Staubwischen. Auch wenn die Reisen nach Berlin, Lissabon oder New York führen, immer bleibt die Herkunft, der Balkan präsent. Aber da ist nun eine Trennwand dazwischen, eine Scheibe wie in einem New Yorker Taxi oder „eine automatische Tür eines Zugs“, die dich von den anderen trennt, die dich vom eigenen Leben abschneidet. Der Wiener Übersetzer Alexander Sitzmann übertrug für uns die Texte ins Deutsche.
Lidija Dimkovska wird am 6./7. September beim Europäischen Literaturfestival Köln-Kalk zu Gast sein und das Buch vorstellen.
Lidija Dimkovska: Schwarz auf weiß. Gedichte aus dem Mazedonischen von Alexander Sitzmann, 66 Seiten, Preis: 10,- € – ist ab sofort lieferbar
Lidija Dimkovska, geb. 1971 in Skopje, studierte Komparatistik an der Universität Skopje und promovierte an der Universität Bukarest. Sie lebt und arbeitet gegenwärtig als Lyrikerin, Prosaschriftstellerin, Essayistin und literarische Übersetzerin in Ljubljana. Seit 1991 erschienen sechs Gedichtbände und drei Romane. Ihr Werk wurde in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. 2009 mit dem Hubert-Burda-Preis für junge osteuropäische Lyrik und den Literaturpreis der Europäischen Union (2013). Mit dem Gedichtband Anständiges Mädchen stand sie überdies 2013 auf der Shortlist für den Brücke-Berlin-Preis.
Alexander Sitzmann, geb. 1974 in Stuttgart, lebt und arbeitet als literarischer Übersetzer, Herausgeber, Sprach- und Kulturwissenschaftler und Lehrbeauftragter in Wien, 2004 Ehrenpreis des bulgarischen Kultusministeriums, 2016 Österreichischer Staatspreis für literarische Übersetzung.
Mit Eva Brunner führt Sandro Abbate auf dem Novolero-Blog ein schönes Interview über Schreiben, Identität, Herkunft und natürlich ihren Debütband Achtung, die Naht, das man hier nachlesen kann.