Ästhetik des Unscheinbaren und Hässlichen

„Mit seinem neuen Gedichtband Im Sommer hatte ich eine Umarmung präsentiert Adrian Kasnitz Lyrik, die sich mit den Unsicherheiten und Sinnfragen einer von Krisen gezeichneten Gesellschaft auseinandersetzt. Dies fließt zusammen mit Fragen nach Herkunft und Identität. Melancholie und Entwurzelung ziehen sich durch diese Gedichte, in denen sich der Verlust von Heimat sowie der Zusammenbruch von Lebenswelten und Gewissheiten andeuten. Innere und äußere Migration vermischen sich in den Texten, in denen das Subjekt zwischen Welten wandelt und doch nirgends ankommt: ‚wir spiegelten uns in den Glasschichten / unscharf, verschwommen / so wie unsere Identitäten sind'“, schreibt Sophie Modert in einer Besprechung des Bandes im Luxemburger Tageblatt und fügt der Lektüre einen weiteren Aspekt hinzu, nämlich den der Ästhetik des Unscheinbaren und Hässlichen.

Ihre Gedichte treffen

„Mira Mann freut sich spür- wie sichtbar aufs nächste Schreiben. Zwei Dinge sind abgeschlossen: ihr dritter Gedichtband mit Titel Kontrolle wie auch – nach Ich mag das (2019) und Schau mich an (2021) – ihr drittes Musikalbum weich. ‚Es ist so gut, loszulassen und von vorne zu beginnen‘, sagt sie. Wenn von ihr Sätze fallen wie: ‚Ich schreibe für mich; ich schreibe, weil ich muss; es tut mir gut, zu schreiben‘, dann sind die nicht einfach so zu nehmen. Dann stehen die bereits sehr in Kontakt mit dem, was sie künstlerisch tut. Mira Mann konfrontiert mit sich und das immer wieder. Diese Entscheidung hat sie fürs Erste getroffen wohl ahnend, dass das Publikmachen ihrer Texte, diese ihre eigenen Wege gehen lässt. Ihre Gedichte treffen. Und das tut auch ihre Musik. Tun auch ihre Videos, die beinahe körperlich wirken (eingefangene Hitze, sichtbare Trockenheit, Mira Manns Gesicht hinter einer dünnen Plastikfolie, süßeste Kirschen, die in Richtung ihres Munds wandern…). Das hat auch mit klar gesetzten, unverstellten Worten, auch mit sinnlichen Trigger-Momenten zu tun. Mira Mann lässt die Präsenz ihrer Wahrnehmungen und ihres Körpers ziemlich ungeschützt in ihre Gedichte, Songtexte einfließen. Das Performative, das allem, auch dem gedruckten Wort, innewohnt, kreiert Kräfte. Sie hat ihren eigenen Sound. ‚Ja, den habe ich jetzt gefunden‘, sagt sie und da schwingt die Zeit des Suchens noch mit.“ Der ganze Text von Katrin Diehl über ihre Begegnung mit Mira Mann ist nachlesbar auf den Literaturseiten München.

Gedichte in der Jackentasche

Im Sommer hatte ich eine Um­armung, der neue Gedichtband des Kölner Schriftstellers, schlägt einen ganz eigenen, lakonischen Tonfall an, hier und da einen münd­lichen Sound, zieht die Kürze weit ausholender Bildlichkeit und dich­terischer Pose vor. Es sind prägnante, visuelle, szenische Gedichte, viele ganz amerikanisch auf der Straße angesiedelt wie ‚Brixton‘ oder ‚Sie kamen direkt aus dem Doku-Kanal‘. Obst und soziale Medien, Wetter-Apps und Instagram wandern durch die Verse, und immer wieder liest man von Beziehungen und der Sehnsucht nach Intimität, die sich nicht einlösen lässt, denn ich will jetzt küssen / und du willst jetzt nicht. Ich will ins Meer springen / und du willst jetzt nicht. Träumte ich, dir aus Istanbul zu schreiben? demons­triert aber auch, wie kunstvoll gebaut die scheinbar beiläufigen Gedichte sind, wie genau kalkuliert ihre Zeilensprünge. Und manchmal gelingt das Zusammensein eben doch, wie im Jackentaschen-Gedicht: ‚In meiner Jackentasche steckt ein Park / in dem wir manchmal laufen / (…) wenn du deine Hand / in meine Jackentasche steckst‘, schreibt Paul Jennerjahn in einem wunderbaren Portrait über den Schriftsteller und Verleger Adrian Kasnitz und seinen neuen Gedichtband. In ganzer Länge kann man den Text nun in der aktuellen Ausgabe der Kölner StadtRevue (5/23) und auf der Homepage lesen.

Poet ethischer Prinzipien

Morgen erhält Rafael Cadenas den Premio Cervantes in der Universidad de Alcalá. Eine Reportage von Peter B. Schumann im SWR2 stellt venezolanische Dichter vor. Das lesenswert Magazin (vom 16.4.) kann man hier nachhören. Die Preisverleihung wird bei Youtube (24.4., 12 Uhr) gestreamt. Der Gedichtband Klagelieder im Gepäck, in der Übersetzung von Geraldine Gutiérrez-Wienken und Marcus Roloff, ist nach wie vor lieferbar.

Mati Shemoelof: Das kleine Boot in meiner Hand nenn ich Narbe

Mati Shemoelofs neuer Gedichtband Das kleine Boot in meiner Hand nenn ich Narbe, aus dem hier erstmals eine Auswahl in deutscher Übersetzung vorgestellt wird, enthält im hebräischen Original fünf Poeme, welche die Geschichte seiner Familie über mehrere Generationen hinweg in Form einer lyrischen Erzählung dokumentieren. Innerhalb der Poeme bildet jedes Gedicht eine selbständige Einheit, jedes einzelne ist eine schimmernde Perle in dem als Kette angelegten poetischen Text als Ganzem. In dieser Perlenkette klingen vielfältige Empfindungen und Erinnerungen an, ja ein nahezu vollständiger Lebensbericht ist hier zu lesen, der die eigene Biographie und Identität, den Lauf der Zeit und den sozialen ebenso wie den urbanen Raum erforscht, in dem der Schreibende sich als Dichter entfaltet. (Aus dem Nachwort von Yochai Oppenheimer.)

Den Band hat Gundula Schiffer aus dem Hebräischen ins Deutsche gebracht. Mati Shemoelof liest am 27. April in Leipzig (Auf nächtlicher Fahrt, Besser Leben), am 24. Mai bei den Frankfurter Lyriktagen und am 10. Juni beim Poesiefestival (Buchengarten der Akademie der Künste).

Mati Shemoelof: Das kleine Boot in meiner Hand nenn ich Narbe. Gedichte aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer, 87 Seiten, Preis: 12,- € – ab sofort lieferbar

Mati Shemoelof ist ein arabisch-jüdischer Autor aus Haifa in Israel und lebt seit einigen Jahren in Berlin. In Israel hat er insgesamt 10 Bücher veröffentlicht: sieben Gedichtbände, eine Kurzgeschichtensammlung, einen Essayband und einen Roman. Seine erste Veröffentlichung in Deutschland war der Gedichtband Bagdad | Haifa | Berlin (AphorismA Verlag, 2019). Außerdem hat er ein Hörspiel geschrieben: Das künftige Ufer (WDR, 2018). In Berlin hat er zwei literarische Gruppen mitbegründet: Poetic Hafla – eine multi-linguale künstlerische Party, die den Immigranten-Kulturen in Berlin eine Stimme gibt. Die zweite Literaturgruppe Anu: Juden und Araber schreiben in Berlin schuf eine einzigartige Veranstaltungsreihe zum Verhältnis der nahöstlichen Kultur (jüdisch und arabisch) in Berlin. 2021 gewann die Gruppe ein Stipendium des Berliner Senats für ein viertägiges Festival, das die utopische Möglichkeit der Gründung einer Middle Eastern Union diskutierte. Einige seiner Texte waren schon in der Anthologie Was es bedeuten soll. Neue hebräische Dichtung in Deutschland enthalten.

Gundula Schiffer, geboren 1980, lebt als Dichterin und Übersetzerin in Köln. Sie schreibt Lyrik hauptsächlich auf Deutsch, daneben auf Hebräisch und übersetzt sich selbst ins Deutsche. Studium der Komparatistik, Kunstgeschichte und Philosophie sowie der hebräischen Sprache und Literatur in München und Jerusalem; Promotion zur Poesie der Psalmen (Beredtheit der Form, 2010). 2019 gab sie in der parasitenpresse gemeinsam mit Adrian Kasnitz die Anthologie Was es bedeuten soll. Neue hebräische Dichtung in Deutschland heraus. Nach Jerusalem-Köln (2017) und Gronau / Gauguin (2022) erscheint im April 2023 ihr dritter Lyrikband Hioba Hymore. Für die Arbeit an diesem Buch erhielt sie ein Dieter-Wellershoff-Stipendium der Stadt Köln. 2021 stand sie mit einem Langgedicht auf der Shortlist für den Lyrikpreis München.

Ein Bergwerk, in dem es zu schürfen gilt

Matthias Nawrat schreibt in seinem Lyrikdebüt über Gewalt und Migration aus einer Perspektive, die wenig erkundet ist. So spannt er einen historischen Bogen zwischen Kriegen und Fluchtbewegungen aus dem Osten Europas bis in die Jetztzeit nach Berlin.

Bereits fünf Romane hat Matthias Nawrat in den letzten zehn Jahren herausgebracht. Darunter auch ‚Der traurige Gast‘ aus dem Jahr 2019, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war und mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet wurde. Zuletzt ‚Reise nach Maine‘.

Jetzt widmet sich der 1979 im polnischen Opole geborene Autor zum ersten Mal der Lyrik. Er hat im Verlag Parasitenpresse sein Lyrik-Debüt vorgelegt: Gebete für meine Vorfahren. Dass Matthias Nawrat als Prosaautor Prosagedichte schreibt, dürfte niemanden verwundern. Dennoch merkt man diesen Gedichten an, dass sie kein zeitweiliger Ausflug in eine andere Gattung sind, sondern Ausdruck echter Neugierde, was seine lyrische Stimme zu sagen vermag.

In diese Zeilen schleicht sich dann und wann ein Reim ein, wobei die Rhythmen frei bleiben. Was auf den ersten Blick als assoziatives Parlando daherkommt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen durchaus als Bergwerk, in dem es zu schürfen gilt. ‚Meine Vorfahren versammelten sich / in unterirdischen Kirchen, sie sammelten Namen / auf unendlichen Listen, / das Gewölbe war der Mutterschoß, / in ihm aufgeschichtet / die Knochen, / die Listen verwandelten sich in unsere Sprache, / gesprochen heute.‘ So heißt es in dem Gedicht Woher ich komme.

Gebete für meine Vorfahren ist ein vielschichtiger Lyrikband, der wohl mehrfach gelesen werden will. Es ist kein Debüt, das große Hits beinhaltet, aber dafür eines, das durch historische Breite und inhaltliche Tiefe punktet. Matthias Nawrat beweist, dass er dem Lyrikfach gewachsen ist und auch hier einen eigenen Sound hat“, schreibt Christoph Ohrem in einer Besprechung des Bandes bei WDR5 Bücher.

Els Moors: kugelsichere dystopien

Der zweisprachige Band kugelsichere dystopien von Els Moors, der zur Poetica in Köln erscheint, versammelt einige neue und einige ausgewählte ältere Gedichte und präsentiert so eine der interessantesten belgischen Dichterinnen der Jetztzeit. Die Übersetzung besorgte Christian Filips.

Bei der Poetica, die heute in Köln beginnt, liest Els Moors bei der Eröffnungsveranstaltung (17.4., 19 Uhr, Uni Köln), am Freitag (21.4., 19 Uhr, Kölnischer Kunstverein) und bei der Abschlussveranstaltung am Samstag (22.4., 19.30 Uhr, Schauspielhaus / Depo 2). Außerdem leitet sie einen Schreibworkshop mit Studierenden der Uni Köln.

Els Moors: kugelsichere dystopien / kogelvrije dystopieën. Ausgewählte Gedichte aus dem Niederländischen von Christian Filips, zweisprachig, 56 Seiten, Preis: 12,- € – ab sofort lieferbar

Els Moors (1976) ist eine belgische Autorin und Dichterin. Sie studierte an der Universität Gent und publizierte 2006 ihren ersten Gedichtband Er hangt een hoge lucht boven ons, der mit dem Herman de Coninckpreis ausgezeichnet wurde. Für ihren zweiten Gedichtband Liederen van een kapseizend paard (2013) erhielt sie den J. C. Bloem-Poesiepreis. 2016 erschien unter dem Titel Lieder vom Pferd über Bord eine erste Auswahl ihrer Gedichte auf Deutsch in der Übersetzung von Christian Filips (brueterich). 2018 bis 2020 war sie Dichterin des Vaderlands in Belgien. 2022 erschien ihr Roman Mijn nachten met Spinoza.

Christian Filips, geboren 1981, ist Autor, Übersetzer, Herausgeber, Musikdramaturg und Regisseur. Zuletzt erschien von ihm der Gedichtband Im Traum die Auskunft sagt: Hier! Ausgewählte Gedichte 1996–2022 im Engeler Verlag.

Enorme Energien

„Unscheinbar beginnen die Gedichte von Adrian Kasnitz meist – und dann ist man auf einmal mittendrin: in einem Thema, einer (Ehr)Furcht, einer existenziellen Zerrissenheit oder, auch, in einem Sud aus Gefühlen, edlen und niederen, nur dass sie bei Kasnitz nicht in diesem Sinne gewertet werden, sondern einfach gegenwärtig sind. Umtriebig sind diese Gedichte – die lyrischen Ichs treibt vieles um. Und Triebe, obgleich nicht plump als Zugpferd missbraucht, als Neonschild angebracht, spielen eine nicht unbedeutende Rolle“, schreibt Timo Brandt über Im Sommer hatte ich eine Umarmung in einer Besprechung bei Lyristix.

Und weiter: „Man weiß in der Folge nie genau, wo man landet, wenn man die Texte betritt; ob die nächsten Verse einen Ort der Reflexion oder sogar der Besinnlichkeit darstellen oder ob man sich flugs außerhalb der (eigenen) Komfortzone(n) wiederfindet. Denn diese Texte nehmen das Blatt nur vor den Mund, um ihm den Geruch des Lebens – Aroma, Note, Pheromone, Mief, Gestank? – einzuhauchen. […] Stellenweise hat mich Kasnitz neustes Buch regelrecht begeistert. Die ambivalent austarierten und dennoch enormen Energien in den Gedichten, die Stimmungen von unterschiedlicher Dichte und Coloeur, die tiefe (Un)Ruhe, die manchmal aus ihnen aufsteigt, sie (und die Leser*innen) einhüllt, das alles sorgt für ein sehr eindringliches Leseerlebnis.“

Wörter vibrieren

„Wenn eine Musikerin Lyrik und Prosa schreibt, ist deren ‚Sound‘ womöglich noch wichtiger, wesentlicher als in anderen Fällen“, schreibt Thomas Gross über vibrieren in dem wir von Ann Kathrin Ast im Mannheimer Morgen (5.4.23). Und weiter: „Festlegungen, überhaupt Begrenzungen sind […] Asts Sache nicht: Es geht ihr um Offenheit, Bewegung oder eben ums ‚Vibrieren‘, das schon der Titel sinnfällig macht, indem er es nicht einmal durch einen Artikel näher bestimmt – anders übrigens als das Personalpronomen im Plural, woraus ersichtlich ist, dass es Ast auf das den Zusammenhalt benennende ‚Wir‘ trotz aller Entgrenzung durchaus ankommt.

Von ‚luft‘, ‚licht‘, von ‚wellen‘, ‚körper‘, vom ‚aether‘ ist die Rede. Themen und Bilder der Texte schöpfen nicht zuletzt aus der Natur und ihrer Erforschung, die ebenfalls an kein Ende kommt. Vieles ist doppelsinnig, so die ’strings‘, die ebenso auf ein physikalisches Modell verweisen wie auf die Saiten von Musikinstrumenten, die wiederum in Schwingung und Vibration versetzt werden. Daneben geht es konkret und körperlich zu, geht es um das Verhältnis von Ich und Du, um Lebensanfang und -ende. Eine Parallele von Sprache und Musik ist auch insofern berührt, als hier Pausen, besonders zwischen den einzelnen Versen, von Belang sind und zum Gestaltungsmerkmal werden. […]

Sie wirken nach, wie es ebenso der (musikalische) Nachklang macht. Und eben deshalb lautet der letzte Vers des kleinen, geschmackvoll mit abstrakten Körpern gestalteten Bandes so: ‚ab hier bitte nur singen‘. Es bleibt den Lesern überlassen, darin auch Ironie zu sehen oder eine Anspielung auf Rilkes ‚Sonette an Orpheus‘. Jedenfalls wirken diese Texte anregend und bezeugen eine originäre Sprachlust. Dieses ‚vibrieren im wir‘ steht für eine Lektüre mit eigenem Sound, die sich lohnt.“

Sommerliche Umarmungen und Apokalypse

„Kasnitz´ neuer Gedichtband Im Sommer hatte ich eine Umarmung zählt 87 Seiten und ist für seine Verhältnisse etwas umfangreicher geworden als sonst, denn seine Kalendariumbändchen haben uns an eine gewisse Kürze und Stringenz gewöhnt. Aber in dieser ‚regulären‘ bzw. kontinuierlichen, an Vergangenes anknüpfenden Lyriksammlung ist zum Glück alles anders: Sicherlich hat der Autor noch mehr Gedichte zur Auswahl gehabt, in sieben Jahren kann schon ein opulentes Werk entstehen, aber Kasnitz gehört eher zu den Lyrikern der leiseren und bescheideneren Töne und Stimmen. Er ist kein Moralist, und seine Gedichte sind sprachlich alle sehr präzise und sparsam gebaut, wodurch selbst eine Beschreibung der Birnbäume auf dem Lande im polnischen Ermland zu einem kleinen Gemälde, Porträt der noch intakten Natur, wird, als sähe man sich die Miniaturwelten des Rokokos an.

Rhythmisch und malerisch haben diese Gedichte viel zu bieten, die Sprache ist, wie gesagt, sparsam, aber ästhetisch wohlüberlegt, was ihnen insbesondere dann zugutekommt, wenn sich Kasnitz´ Gedichte bekannter sozialer politischer oder globaler Themen annehmen, da durch die Schönheit der Sprache und der formalen Konstruktion unser Intellekt nicht nur positiv, sondern auch kritisch stimuliert wird. Kasnitz´ Gedichte erscheinen dann einem wie sehr genaue und oft schmerzhafte Einblicke in die menschlichen Tragödien, obgleich sie etwas beschreiben, was uns auf den ersten Blick ’normal‘, bekannt vorkommt, nach dem Motto: So ist das Leben“, schreibt Artur Becker in einer Besprechnung des Bandes im Overton-Magazin, wo man die ganze ausführliche Besprechung nachlesen kann.

Und weiter: Schon das erste Gedicht [Chefs] eröffnet diesen Reigen der Blicke in verschiedene Welten, Schicksale und Momente, die für eine Lyriker niemals vergehen bzw. verloren gehen dürfen. […] Ein trauriges Gedicht, es erinnert auch an Czesław Miłosz´ Arbeiter- und Solidarność-Gedicht, das sich gegen die stalinistischen Machthaber und ihren Missbrauch der Macht richtete und Miłosz´ moralische Konflikte mit dem Stalinismus und seiner eigenen Rolle in diesem mörderischen System thematisierte: ‚Der du dem kleinen Mann auf der Straße Böses angetan hast‘ (‚Który skrzywdziłeś‘) von 1950.

Und so geht es dann im ganzen Gedichtband weiter, dem Bösen werden Namen gegeben und die Zähne gezogen. Hinter der Figur des blutrünstigen Königs Ubu aus einem absurden Theaterstück des französischen Schriftstellers, Dichters und Dramatikers Alfred Jarry (1873 – 1907) kann sich auch ein Putin verstecken, heißt es doch in dem Gedicht Père Ubu:

‚C’est merdre, wenn Père Ubu geht, geht man besser

zur Seite, jetzt geht er hinter die Karpaten, (…)

(…) isst Père Ubu, isst man lieber

woanders, schlägt er nach den Köpfen

duckt man sich besser schnell‘

Brennendes Brasilien im Gedicht Amazonas Würgevogel, wo die Wälder der menschlichen Gier und einem gestrigen Denken zum Opfer fallen, kann aber auch schon zu uns kommen, nach Europa ‒ so klein ist die Welt durch die Umweltprobleme, die Klimaänderungen und die Globalisierung geworden, wobei es ja darum geht, dass es auf unserem Planeten keine sicheren Inseln, kein Asyl, mehr gibt. Und es geht ja darum, dass sich auch nichts ändert, da sich die menschliche Natur nur schwer ändern lässt, wenn Manipulation und Instrumentalisierung des Leviathans im Spiel sind: ‚Immer sind solche Typen Tyrannen von Gott oder / anderen höheren Mächten gesegnet.‘

An dieses ‚ökologisch-antifaschistische‘ Gedicht schließt sich eines der schönsten in diesem Band an, das verträumte und zugleich leichtfüßige: ‚Mein:Herz:Hagen, die toten Wälder‘. Kasnitz lässt uns in diesem Text mit der Natur, die zerstörerisch sein kann, selbst aber genauso zerbrechlich ist wie das menschliche Dasein, eins werden:

‚Hagen, Lichtung, Licht im Wald

die lichten Bäume, die abknickenden Zweige

wo sich unsere Wege trennen, du leicht

ich abschüssig geh, an unseren Händen

klebt Harz, Rinde, Schmiere, du hörst es pochen (…)'“